Ein Beitrag von Alina Oftadeh. Sind gläubige Menschen empfänglicher für Verschwörungserzählungen und welche Gefahren für die Demokratie ergeben sich daraus? Zu der Veranstaltung der Amadeu Antonio Stiftung mit dem Religionssoziologen Prof. Gert Pickel.
Am 10.08.2022 fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Verschwörungsideologien als Radikalisierungsmotor. Wissenschaftliche Perspektiven auf ein gesellschaftliches Phänomen“ der Amadeu Antonio Stiftung eine Veranstaltung zum Zusammenhang von Verschwörungsideologien und Religion statt. Als Experte zur Thematik war Religionssoziologe Prof. Gert Pickel geladen. Er ging in seinem Vortrag der folgenden Frage nach: Steht Religion oder Religiosität in einer Beziehung zu einem Glauben an Verschwörungserzählungen – und besitzt dies eine negative Bedeutung für die Demokratie?
Laut Pickel seien auf den in der Covid-19 Pandemie entstandenen Querdenken Protesten neben zahlreichen Symbolen aus dem rechtsextremen Spektrum auch immer wieder religiöse und esoterische Zeichen und Codes präsent. In seinem Vortrag nahm er daher in den Blick, inwiefern es einen messbaren Zusammenhang zwischen dem Glauben an Religion oder Esoterik und Anhängern von Verschwörungserzählungen gibt. Anschließend stellte er die Frage, welchen Einfluss ein möglicher Zusammenhang auf die Demokratie haben könne. Hierbei bezog er sich primär auf die Leipziger Autoritarismus Studie (Decker et al. 2020).
Steht Religion in einer Beziehung zu einem Glauben an Verschwörungserzählungen und besitzt dies eine negative Bedeutung für die Demokratie?
Die so von Pickel formulierte Forschungsfrage beantwortete dieser mit einem ganz klaren „Ja“ – mit Einschränkungen: ausschlaggebend für die Nähe zu Verschwörungserzählungen scheint laut Pickel die Form des Glaubens zu sein. Ein exklusiver religiöser Glaube, der von einer „wir“ versus „die anderen“ (Othering) Mentalität geprägt sei, scheine demzufolge ebenso wie Aberglaube und eine esoterische Tendenz eher zu einer Offenheit gegenüber Verschwörungserzählungen zu führen, als ein pluralistischer, toleranter Glaube, der auch für nicht-Mitglieder offen ist. Angehörige einer solchen „Form von Glauben“ neigten Pickel zufolge während der Pandemie sogar eher dazu, sich geschlossen als Gruppe gegen Verschwörungserzählungen im Kontext der Pandemie und für Solidarität zu positionieren. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass die wissenschaftliche Debatte sich bislang bezüglich der Korrelation von Religiosität und Verschwörungsglauben noch uneins ist: bisherige Studien lieferten keine eindeutigen Ergebnisse. Bislang lässt sich kein Zusammenhang zwischen Religiosität im Allgemeinen und Verschörungsglauben herstellen, sondern primär zwischen „bestimmten Ausprägungen […] respektive Spiritualität“ (Schwaiger et al. 2022, 15-16).
Verschwörungserzählung: Konkrete Darstellungen, die sich häufig aus eher abstrakten Verschwörungsmythen speisen. Diese wiederum basieren oft auf dem Narrativ einer im Geheimen stattfindenden Verschwörung vermeintlicher Eliten und Einzelner gegen die allgemeine Bevölkerung (vgl. Lamberty 2020). |
Othering: Beim u.a. von Edward Said mitgeprägten Begriff handelt es sich um den permanenten Prozess der Kategorisierung, der letztlich zu einer diskursiven Unterscheidung zwischen „Wir“ und „die Anderen“ führt Dabei wird das Eigene als positiv und selbstverständlich angesehen, während das vermeintlich Andere als nicht-zugehörig und abweichend kategorisiert und abgewertet wird (vgl. Fachstelle politische Bildung, 2018). |
Aber warum sind gerade Menschen, die einem (Aber-)Glauben folgen, empfänglicher für Verschwörungserzählungen?
Pickel erklärt dies mit der Ebene der Projektivität: das Nicht-Erreichen eigener Wünsche, Bedürfnisse und Affekte wird in die Außenwelt projiziert, während Ursachen für Unerklärliches bzw. Überkomplexes auf eine bestimmte Gruppe übertragen und so erfassbar gemacht werden (vgl. Decker et al. 2020, 187f). Hier liege laut Pickel auch das verbindende Moment von Verschwörungsideologien und Aberglaube/Esoterik: da letztere mit der Idee eines magischen, nur für einige wenige Erleuchtete zugänglichen Wissens arbeiteten (vgl. Schwarz 2022), böten sie einen Nährboden für Verschwörungserzählungen aller Art, die stets die Idee einer übermächtigen Elite – im Verborgenen über die Massen herrschend – transportiert.
Dies erkläre auch, warum Personen, die offen für Verschwörungsideologien sind, häufig auch empfänglich für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit seien – allen voran Antisemitismus und Antimuslimischer Rassismus : damit würde die Verantwortung für komplexe globale Negativereignisse bei diesen Gruppen gesucht.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Der Begriff geht auf Heitmeyer (2002) zurück und wird verwendet, um rechtsextreme Einstellungen ggü. unterschiedlichen Gruppen von Menschen zu beschreiben. Deren Abwertung basiert auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit und richtet sich jeweils pauschal gegen alle (vermeintlich) der jeweiligen Gruppe zugehörigen Individuen (vgl. bpb o.J.). |
Antisemitismus: Eine ablehnende bis feindliche Haltung gegenüber Jüdinnen und Juden, bzw. jüdischen Gruppen und Einrichtungen. Diese „manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, […] benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge“ (IHRA o.J.). |
Antimuslimischer Rassismus: Beschreibt „Die feindselige Ablehnung des Islams und die Ausgrenzung und Hass gegen Muslim:innen oder Menschen, die für Muslim:innen gehalten werden“. Hierbei werden verallgemeinernde Aussagen über ‚den Islam‘ und Muslim:innen getroffen, wodurch einerseits eine sehr heterogene Gruppe homogenisiert wird und andererseits auch nicht-muslimischen Menschen aufgrund von äußeren Merkmalen die Zugehörigkeit zum Islam zugesprochen wird (vgl. Amadeu Antonio Stiftung o.J.). |
Gemeinsame Wahrheiten als identitätsstiftendes Moment?
Ein weiterer Faktor, der die Nähe von Religiosität, Aberglaube und Esoterik zu Verschwörungsideologien erklären könnte, sei laut Pickel das Empfinden, nur die eigene Gruppe hätte „die Wahrheit“ verstanden: dies erzeugt einerseits einen starken Zusammenhalt innerhalb der Gruppierung, während sich gleichzeitig nach außen hin stark abgegrenzt wird. Zugehörigkeitsbedürfnisse scheinen in beiden Fällen ein relevanter Faktor zu sein.
Warum sind insbesondere in Ostdeutschland höhere Zustimmungswerte zu den Querdenken-Protesten zu verzeichnen?
Trotz der hohen Zahl konfessionsloser Personen in Ostdeutschland (vgl. Pickel 2020, o.S.) haben die Querdenken-Proteste hier hohen Zulauf und vermehrt Schnittstellen mit rechten und rechtsextremen Akteur:innen (vgl. Huesmann/Sternberg 2022, o.S.). Religiosität kann also scheinbar nicht als Begründung für diese Nähe dienen. Pickel bietet zweierlei Erklärungsansätze: Einerseits sei in Ostdeutschland die Zustimmung zu Antimuslimischem Rassismus höher (vgl. Mediendienst Integration 20021, 5). Dieser wird in der Regressionsanalyse der Studie als relevanter Faktor für die Nähe zu Verschwörungsmythen genannt. Andererseits sei auch die relative Deprivation, sprich die subjektive Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation und das Gefühl, auf der Strecke geblieben zu sein, in den neuen Bundesländern vergleichsweise höher als in Westdeutschland (vgl. ebd.). Dies wiederum bilde eine fruchtbare Basis für Feindbilder und vereinfachte Erklärungsansätze, welche in Verschwörungsideologien zusammenlaufen (vgl. Reiser et al. 2021, 73-94/ Küpper und Zick 2015, o.S.).
Sehen Sie sich in Ihrem beruflichen oder privaten Umfeld mit Verschwörungserzählungen konfrontiert? Der Beauftragte für Weltanschauungs- und Sektenfragen der evangelischen Kirche Sachsen, Dr. Harald Lamprecht sammelt hier einige Informationen, wie auf eine solche Situation reagiert werden kann.
Quellen:
Amadeu Antonio Stiftung (o.J.): Antimuslimischer Rassismus – was ist das? https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit/antimuslimischer-rassismus/ [10.11.2022].
Bundeszentrale für politische Bildung (o.J.): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/500781/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit/ [26.10.2022].
Decker, O./ Schuler, J./ Yendell, A./ Schließler, C./ Brähler, E. (2020): Das autoritäre Syndrom: Dimensionen und Verbreitung der Demokratie-Feindlichkeit. In: Decker, O. und Brähler, E. (Hg.): Autoritäre Dynamiken: Alte Ressentiments – neue Radikalität. Leipziger Autoritarismus-Studie. Psychosozial-Verlag, S.179-211.
Fachstelle politische Bildung (2018): “Es geht darum, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen.“ Interview mit Christine Riegel. https://transfer-politische-bildung.de/transferstelle/fachstelle-politische-bildung/mitteilung/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=217&cHash=36c4e717102b273cda066aea4975ad63 [10.11.2022].
IRAH (o.J.): Arbeitsdefinition von Antisemitismus, https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus?fbclid=IwAR3yFYq5ullD7T8vfRr2O7CazJxt_N39IjNvTezxArEWjdoCV9n9oDGrr6A [26.10.2022].
Huesmann, F./ Sternberg, J. (13.01.2022): „Verfassungsschutz: ‚Rechtsextremisierung‘ der Corona-Proteste in Ostdeutschland'“, Redaktionsnetzwerk Deutschland, https://www.rnd.de/politik/verfassungsschutz-rechtsextremisierung-der-corona-proteste-in-ostdeutschland-7BSFQF3HXZCD3KTTR7MXRWGUGA.html [01.12.2022]
Küpper, B. /Zick, A. (2015): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/214192/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit/ [26.10.2022]
Lamberty, P. (11.11.2020): „Zwischen Theorien und Mythen: eine kurze begriffliche Einordnung“, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/318159/zwischen-theorien-und-mythen-eine-kurze-begriffliche-einordnung/ [08.12.2022]
Mediendienst Integration (2021): Antimuslimischer Rassismus in Deutschland: Zahlen und Fakten, https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Infopapier_Antimuslimischer_Rassismus.pdf [01.12.2022]
Pickel, G. (14.09.2020): „Kirchenbindung und Religiosität in Ost und West“, Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47190/kirchenbindung-und-religiositaet-in-ost-und-west/#node-content-title-0 [01.12.2022]
Reiser, M./ Küppers, A./ Hebenstreit, J./ Salheiser, A./ Vogel, L. (2021): Demokratie in der Corona-Pandemie. Ergebnisse des Thüringen Monitors 2021. Friedrich-Schiller –Universität Jena Institut für Politikwissenschaft KomRex – Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration.
Schwaiger, L./ Schneider, J./ Eisenegger, M./ Nchakga, C. (2022): Verschwörung als Ersatzreligion? Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsaffinität in Zeiten gesellschaftlicher Krisen. Zeitung für Religion, Gesellschaft und Politik.
Schwarz, C. (2022): Nocun und Lamberty über Esoterik, https://taz.de/Lamberty-und-Nocun-ueber-Esoterik/!5885366/ [19.10.2022].