Sich selbst nicht verlieren: Soziale Arbeit mit traumatisierten Frauen

Ein Beitrag von Julia Bormuth – Betroffene von Menschenhandel leben regelmäßig mit der Erinnerung an extreme psychische und physische Gewalt. Traumatisierende Erfahrungen führen nicht selten zu lebenslang belastenden Traumata. Spezialisierte Fachberatungsstellen (FBS) leisten bei der Bewältigung essenzielle Unterstützung. Welche zentrale Rolle die sozialarbeiterische Selbstreflexion im Prozess spielen muss, beleuchtet der folgende Praxisbeitrag.

Den persönlichen Zugang finden, Lebenswelt verstehen

Julia Bormuth konnte sich in der Praxis einbringen: Für vier Monate machte sie ihr Praktikum in der Arbeit mit Betroffenen von Menschenhandel und häuslicher Gewalt der Mitternachtsmission Heilbronn. Dies fand im Rahmen des BA-Studiengangs Soziale Arbeit der FH Erfurt statt.

Vulnerabilität und Traumata durch Erlebnisse des Menschenhandels (© Alejandro Pinero Amerio, Pixabay 01.2021)

Hinter Menschenhandel verbirgt sich die Anwerbung oder Ausbeutung von Personen, die unter Gewaltanwendung, Täuschung, Drohung oder Missbrauch von Macht zum Ausüben einer Tätigkeit gezwungen werden (vgl. KOK e.V. 2020, 24 ff.). Im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) § 232 wird zwischen den Formen der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution, Arbeitsausbeutung, Zwangsbettelei, Ausbeutung zur Begehung von strafbaren Handlungen sowie zur Organentnahme unterschieden. Während jährliche Statistiken des Bundeskriminalamtes mehrheitlich Fälle von Frauen und sexueller Ausbeutung ausweisen, wird von einem großen Dunkelfeld ausgegangen. Erfahrungen der Akteur*innen im Hilfesystem deuten darauf hin, dass sowohl Frauen, Männer, Kinder und trans* Personen Ziel von Menschenhandel sein können. (vgl. KOK e.V. 2020, 24 ff.)

Bei den Betroffenen verursachen die Erlebnisse von psychischer, physischer und sexueller Gewalt sowie extremer Hilflosigkeit häufig Traumata (vgl. Rabe und Tepp 2020, 89). Soziale Arbeit unterstützt daher maßgeblich in Form von Fachberatungsstellen. Dort erhalten Betroffene u.a. psychosoziale Beratung, Vermittlung von geschützter Unterbringung und medizinischer Versorgung, sowie Unterstützung beim Strafverfahren, Erhalt von Entschädigungen und Aufbau neuer Lebensperspektiven (vgl. KOK e.V. 2020a, 43.).

Besonders durch meine Arbeit mit von sexueller Ausbeutung betroffenen Frauen begriff ich das Ausmaß der Vulnerabilität und Schutzbedürftigkeit. Im Unterstützungssystem von FBS aufgefangen, prägen diese weiterhin die Lebenssituation. Bei ausländischen Klientinnen kann ein Mangel an Sprachkenntnissen sowie aufenthaltsrechtliche oder berufliche Unsicherheiten die psychische Verfassung zusätzlich beeinträchtigen. Hinzu kommen Gefährdungen von außen, da die Betroffenen nicht selten für ihren Schutz vor den Täter*innen in anderen Regionen untergebracht werden sowie einen Decknamen erhalten. Das Wissen und Verstehen über das Ausmaß der zu bewältigenden Herausforderungen bildet die Basis eines Beziehungsaufbaus. Denn nur so kann ich Werte wie „Achtsamkeit für die besonderen Bedingungen der Lebenswelt“ (Wendt 2018, 255) praktisch umsetzen.

 

 Haltung entwickeln in der Profession

Anerkennung, Achtsamkeit und Wertschätzung als Haltung entwickeln (© kmicican, pixabay. 01.2017)

Stereotype, Vorurteile oder Stigmatisierungen sind nicht selten gesellschaftliche Assoziationen mit dem Rotlichtmilieu, denen die Frauen ausgesetzt sind. Ein erster Schritt war daher die Selbsterkenntnis, dass auch der sozialarbeiterische Kontext nicht frei von vorurteilsbehafteten Wertungen ist. Davor schützen kann jedoch das Entwickeln einer professionellen Haltung: Angelehnt an Wendt (2018) ist Haltung „eine innere, ethisch begründete Einstellung einer Person (…), die die Grundlage ihres Handelns darstellt und dieses prägt“ (ebd. 254). Anerkennung, Achtsamkeit und „Bereitschaft, Menschen auf Augenhöhe wertschätzend wahrzunehmen“ (ebd. 255) sieht er neben anderen als drei essenzielle Werte für eine professionelle Soziale Arbeit.

Zwischen den Polen Nachsicht und Viktimisierung

Im traumasensiblen Umgang mit den Klientinnen sind die Ziele, eben diese Anerkennung und Achtsamkeit sowie viel Geduld, Empathie und Nachsicht auszustrahlen. Der Lernprozess diese umzusetzen, war begleitet von der Erkenntnis, dass den Frauen im Alltag ihre Traumatisierungen nicht unbedingt anzusehen sind.

Eine offene Haltung, Freundlichkeit und gemeinsame Freizeitgestaltung kennzeichneten den Anfang eines professionellen Beziehungsaufbaus. Dabei war die Herausforderung, psychischen Problemen adäquat zu begegnen. So half z.B. eine geduldige Haltung dabei, wenn eine Frau extreme Motivationslosigkeit äußerte. Gleichzeitig wurde deutlich, dass ein übervorsichtiges Entgegenkommen nicht immer hilfreich ist. Undifferenzierte Nachsicht birgt die Gefahr der Viktimisierung: Die Frauen ausschließlich als hilflose Betroffene zu betrachten. Ein einprägsames Beispiel ist hier eine Klientin, deren Baby aufgrund der Notsituation extreme Vernachlässigung erlitt. Sie benötigt einerseits aufgrund eigener Instabilität und Traumaverarbeitung mehr Zeit, vollständige Verantwortung als Mutter übernehmen zu können. Andererseits müssen ihr diese Pflichten zur Gewährleistung des Kindeswohls umfänglich aufgezeigt werden. Eine überhöhte Viktimisierung im Sinne von Nachgiebigkeit und Reduzierung von Verantwortungen könnte dazu führen, ihr die Aufgabe als Mutter paternalistisch abzusprechen.

Lessons Learned: Reflexion schützt vor Pauschalisierungen

Individuelles Schicksal der Betroffenen reflektieren (© Marcos Cola, pixabay 05.2021)

Durch das Praktikum in der FBS für Betroffene von Menschenhandel erhielt ich ein differenzierteres Bild von den Klientinnen. In der Arbeit mit den Frauen sind zum einen Rücksichtnahme, Geduld und Verständnis essenziell, um Traumatisierungen sensibel zu begegnen. So half z.B. ein zeitintensiver Vertrauensaufbau dabei, eine Klientin in ihren psychisch-labilen Phasen zu begleiten. Zum anderen muss die Intensität des sensiblen Umgangs reflektiert werden. Ansonsten besteht die Gefahr, Klientinnen pauschal als hilfsbedürftige Opfer zu betrachten.

Ebenso muss ein reflektierter Umgang mit den traumatischen Schicksalen der Frauen im öffentlichen Diskurs gefunden werden. Berichte von den traumatischen und menschenunwürdigen Erlebnissen der Betroffenen können zwar eine wichtige Grundlage in der Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit sein. Hier besteht jedoch die Gefahr der Skandalisierung von Prostitution als legales Gewerbe. Durch die Arbeit der Mitternachtsmission und mit den Klientinnen erlernte ich die Differenzierung zwischen Menschenhandel und Prostitution. Die extremen Traumatisierungen, individuellen Schicksale und Gewalterfahrungen im Kontext von Zwangsprostitution können dazu verleiten, diese auf die Lebenswelt von Prostituierten pauschal zu übertragen. Durch die Lebensgeschichten der Klientinnen wurde jedoch deutlich, dass Menschenhandel ein komplexes Phänomen ist. So gibt es Frauen, die freiwillige Prostitution als Tätigkeit und für den Lebensunterhalt von sich und ihren Familien ausüben wollen. Um diese Freiheiten zu wahren, ohne Prostitution per se zu viktimisieren, ist eine reflektierte und differenzierte Berichterstattung über Gewalterfahrungen in der Öffentlichkeit notwendig.

Helfen vor Ort: Fachberatung in der Mitternachtsmission

Geschützte Unterkunft für Betroffene (© Mitternachtsmission, www.diakonie-heilbronn.de 06.2021)

Bereits in ihren Grundwerten wird die ethische Haltung gegenüber den Klient*innen deutlich: „Beziehungsorientiert“, „Niederschwellig“ und „Professionell“ sind die Grundsätze nach denen die Mitternachtsmission Heilbronn seit 1955 mit Menschen in Not zusammenarbeitet und ganzheitlich helfen will. Unter Trägerschaft der Diakonie spezialisiert sie sich auf Menschen, die besonders in „dunklen Zeiten, den Nächten des Lebens“ (Mitternachtsmission 2020, 5.) Hilfe suchen. Neben vier anderen Bereichen bietet sie eine Fachberatungsstelle (FBS) für Betroffene von Menschenhandel an. Besondere Spezifika sind die professionelle Nähe und Niederschwelligkeit zu den Zielgruppen, wie eine durchgehende telefonische Erreichbarkeit und der Präsenz an lebensnahen Orten, wie Spielplätzen, in der „Szene“, im Rotlicht sowie in Obdachlosenheimen und Flüchtlingsunterkünften (vgl. ebd. 5.). Ausführliche Beschreibungen der Bereiche und Tätigkeiten werden im Jahresbericht der Mitternachtsmission veröffentlicht.

Julia Bormuth studiert im Bachelor Studiengang Soziale Arbeit an der Fachhochschule Erfurt. Im Rahmen ihrer Bachelorarbeit befasst sie sich mit der Frage nach dem politischen Auftrag Sozialer Arbeit am Beispiel der Thematik Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung. 

Mehr darüber, wie professionelles Wissen und Können in der (systemischen) Sozialen Arbeit genutzt werden kann, um Formen der politischen Auseinandersetzung anzuregen, lesen Sie im Tagungsbericht von Dr. Wolfgang Geiling: „Ansichten wechseln“ – 7. Merseburger Tagung zur systemischen Sozialarbeit.

Bibliographie:
  • KOK e.V. (2020): Menschenhandel und Ausbeutung- Begriffserklärung und Hintergründe. In: KOK e.V. Menschenhandel in Deutschland -Rechte und Schutz für Betroffene. Berlin. S. 24-31.
  • KOK e.V. (2020a): Spezialisierte Fachberatungsstellen für Betroffene von Menschenhandel. In: KOK e.V. Menschenhandel in Deutschland -Rechte und Schutz für Betroffene. Berlin. S. 42-43.
  • Mitternachtsmission Heilbronn (März 2020). Jahresbericht 2019. Heilbronn. Verfügbar unter: https://www.suedstadtkids-heilbronn.de/media/jahresbericht_nsk_2019.pdf [01.06.2021].
  • Rabe, Claudia; Tepp, Suzan (2020): Sexuelle Ausbeutung/Zwangsprostitution- Praxis einer Fachberatungsstelle in einem Flächenland. In: KOK e.V. Menschenhandel in Deutschland -Rechte und Schutz für Betroffene. Berlin. S. 86-93.
  • Wendt, Peter-Ullrich (2018): Lehrbuch Soziale Arbeit. Beltz Juventa, Weinheim.

Herausgeberschaft, Redaktionelle Betreuung und Endredaktion: Miriam Müller-Rensch