Gesichter des Antisemitismus

Ein Beitrag von Anna Maria Fink – Im 3. Impulsvortrag der Reihe Short Lectures Radikalisierungsprävention [Erkennen. Verstehen. Entgegentreten.] der FH Erfurt führte die KIgA e.V. (Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus) aus Berlin in aller Kürze in die Thematik des Antisemitismus ein. Mit dem Fokus auf Erscheinungsformen von Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft erläuterte Désirée Galert (Bereichsleitung Pädagogik) Praxisansätze und Methoden, um Antisemitismus pädagogisch zu begegnen.

Der Thüringen Monitor 2021 zeigt: Feindliche Haltungen gegen Jüd*innen in der hiesigen Gesellschaft nehmen kontinuierlich zu (vgl. Reiser et al, 2021, S. 8). Insbesondere antisemitischen Aussagen wird vermehrt zugestimmt (vgl. ebd., S. 17): In der Befragung von 2021 stimmte beispielsweise ein Fünftel der Befragten der folgenden Aussage zu: „Juden versuchen heute Vorteile daraus zu ziehen, dass sie während der Nazi-Zeit die Opfer gewesen sind.“ (ebd., S.16).

Wie Antisemitismus definieren? Eine gemeinsame Sprache finden

Als entsprechend dringlich ordnet Galert die gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung gegen Antisemitismus im Alltag ein. Diese sei zwar eine Aufgabe der Praxis, doch sei hier eine gemeinsame und wissenschaftlich anerkannte Definition des Phänomens unabdingbar. Nicht zuletzt, da aufgrund des Fehlens einheitlicher Definitionen zahlreiche antisemitische Äußerungen, Handlungen und sogar Straftaten nicht ausreichend dokumentiert würden. Die International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) definiert Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ (vgl. IHRA, 2016).

Diese Definition wurde um die Fokussierung auf falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen*Juden, bzw. deren Macht als Kollektiv ergänzt: Antisemit*innen glaubten an den Mythos der jüdischen Weltverschwörung, sowie die Kontrolle von Medien, Wirtschaft oder Regierung durch das jüdische Volk.

Ein Blick zurück schärft den Blick für die Gegenwart

Ausgehend von einer historischen Kontextualisierung zeigt Galert auf, inwiefern die gesellschaftliche Diskriminierung und Ausgrenzung des Mittelalters auch die sehr viel spätere Abwertung von Jüd*innen begründen – und das bis heute. In der Neuzeit und Moderne sei zwar eine rechtliche Gleichstellung in verschiedenen Teilbereichen erfolgt, doch bedeute dies kein Ende von Diskriminierung und Gewalt. Viele der überlieferten Zuschreibungen sind bis heute erhalten geblieben. Beispielsweise wird Jüd*innen oft unverhältnismäßiger Einfluss im Finanzwesen zugeschrieben.
Dieses „Othering“ von Jüd*innen ist ein modernes Phänomen des Antisemitismus und hat seine Wurzeln in Geschichten wie der Dolchstoßlegende, Gründerkrise und in General Dreyfuss (weiter Informationen hierzu unter: shorturl.at/fhkyJ).

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Othering: Beim u.a. von Edward Said mitgeprägten Begriff handelt es sich um den permanenten Prozess der Kategorisierung, der letztlich zu einer diskursiven Unterscheidung zwischen „Wir“ und „die Anderen“ führt  Dabei wird das Eigene als positiv und selbstverständlich angesehen, während das vermeintlich Andere als nicht-zugehörig und abweichend kategorisiert und abgewertet wird (vgl. Fachstelle politische Bildung, 2018).

Der moderne Antisemitismus sei vor allem säkular. Die politisch motivierte Feindschaft gegenüber Jüd*innen ist ein Kennzeichen dafür. Oftmals seien auch verschwörungsideologische und antisemitische Kapitalismus-/Welterklärungsversuche ein weiteres Kennzeichen von modernem Antisemitismus.

Sekundärer Antisemitismus – eine moderne, antisemitische Erscheinungsform

Moderner Antisemitismus geht mit sekundärem Antisemitismus einher. Das Zitat „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“ von Zvi Rex, einem österreichisch-israelischer Arzt, macht den sekundären Antisemitismus deutlich (zitiert nach Broder 2005, S.158). Dieser Antisemitismus begründe sich nicht trotz, sondern vor allem wegen Auschwitz. Die Jüd*innen stellten demnach in Deutschland eine Bedrohung dar, weil ihre bloße Existenz ein Gefühl der Schuld aufruft. Dieses empfinden die Deutschen, wenn sie sich an Holocaust, Vernichtung und Verantwortung erinnern. Für diese Schuldgefühle und die Kränkung des nationalen Selbstbewusstseins werden Jüd*innen verantwortlich gemacht.

Nicht selten werden aus dem beschriebenen Milieu Forderungen nach einem „Schlussstrich“ unter der Aufarbeitung laut, worin die Abwehr von Erinnerungen, Verantwortung und Scham zu erkennen sei. Im Zitat von AfD Politiker Alexander Gauland im Jahre 2017 werde deutlich, dass bis heute der Holocaust relativiert und geleugnet wird:

„Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. Deshalb haben wir auch das Recht, uns nicht nur unser Land, sondern auch unsere Vergangenheit zurückzuholen. […] haben wir das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“ (DPA, 2017).

Die Notwendigkeit vielfältiger Ansätze in der Antisemitismusprävention

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Die Gesichter des Antisemitismus sind vielfältig. Aus diesem Grund müssen Umgangsweisen, Ansätze mit  antisemitischen Vorfällen, wie auch die Antisemitismuspräventionsarbeit vielfältig antworten können. In der Bündnisarbeit sei es wegweisend, unterschiedliche Positionen aushalten zu können. Das offene Gespräch zu suchen und über problematische Vereinfachungen zu sprechen, sei hierbei zentral. Nichtsdestotrotz sei es aber auch wichtig, persönliche Grenzen zu ziehen, wo eine Zusammenarbeit durch antisemitische Aussagen und Verhaltensweisen nicht möglich ist. In der Arbeit im Feld des Antisemitismus sei vor allem die Förderung von Widerspruchs- bzw. Ambiguitätstoleranz wesentlich.

Beim Erkennen der Gesichter des Antisemitismus sei das aktive Miteinbeziehen von Emotionen insbesondere bei Argumentationstrainings und Rollenspielen eine wichtige Instanz, die gefördert und nicht untergraben werden sollte.


Der Bildungsträger KIgA e.V. entwickelt seit 15 Jahren innovative Konzepte für die pädagogische Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft. KIgA e.V. erarbeitet modellhafte und lebensweltlich orientierte pädagogische Ansätze und Materialien für die politische Bildung und setzt sie in der Praxis mit der Migrationsgesellschaft und anderen Zielgruppen um. Der Bildungsträger ist in den Bereichen Antisemitismus, Islam/Islamismus/Antimuslimischer Rassismus und historisch-politische Bildung aktiv. Zudem werden bundesweit Interessierte aus Bildung und Zivilgesellschaft mit langjährigen Erfahrungen unterstützt, Multiplikatoren*innen qualifiziert als auch Beratung bei antisemitistischen Vorfällen, im Bildungsbereich, für Politik und Gesellschaft angeboten.

Die Fachhochschule Erfurt versteht sich als Lern- und Forschungsort der Vielfalt und möchte mit der internen Veranstaltungsreihe für den Umgang mit diskriminierenden sowie rassistisch-motivierten Äußerungen und Taten sensibilisieren und sich gegen radikalisierte Haltungen stellen. Die dritte Veranstaltung in diesem Format findet im Sommersemester 2022 statt. Die Vorträge sind Teil der Strategie Radikalisierungsprävention der FHE [Erkennen. Verstehen. Entgegentreten.] Weiterer wichtiger Baustein der Strategie Radikalisierungsprävention ist die Unterstützung aller Hochschulangehörigen, die Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt und Dynamiken von Radikalisierung erleben oder beobachten müssen, die von Rassismus oder Antisemitismus, von der Abwertung ihrer Person aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihres Glaubens, ihrer sexuellen Orientierung und Identität oder einer Behinderung betroffen sind. Beratung und Unterstützung an der Fachhochschule und durch externe Partner finden Sie  hier.

Weiterführende Literaturhinweise (Eine Zusammenstellung von KIgA e.V.):

→ Webseiten der KIgA mit Broschüren und Kontakt:

https://kiga-berlin.org/

https://www.anders-denken.info

https://www.stopantisemitismus.de/

https://lchaim.berlin/

Quellen (u.a.):

Hermann, M., Eisheuler, F. & Rathje, J. (2020): Politische Bildungsarbeit für eine „Gesellschaft der Mündigen“. Psychosozial (43/1, Nr. 159). S. 50-60.

Hessel, F. (2020): Elemente des Verschwörungsdenkens. psychosozial (43/1, Nr. 159). S. 15-26.

KIgA (Hrsg.) (2017): Widerspruchstoleranz 2. Ein Theorie-Praxis Handbuch zu Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit. Berlin: o.V.

https://www.landesregierung-thueringen.de/regierung/th-monitor

ttps://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/thueringen-bratwurstmuseum-auf-gelaende-von-altem-kz-aussenlager-jetzt-rudert-die-stadtzurueck_id_10265733.html

Verwendete Quellen im Blogeintrag:

Alliance(IHRA), I. H. (2016). Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Von https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus abgerufen am 14.06.2022

Broder, H. (2005): Der ewige Antisemit. Berlin: Verlag Taschenbuch.

Fachstelle für politische Bildung (2018). Transfer für Bildung. Interview mit Christine Riegel: “Es geht darum, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen.“: https://transfer-politische-bildung.de/mitteilung/artikel/es-geht-darum-macht-und-herrschaftsverhaeltnisse-zu-hinterfragen-interview-mit-christine-riegel/ abgerufen am 14.06.2022

DPA. (15. September 2017). Frankfurter Rundschau. Von https://www.fr.de/politik/gauland-muss-ns-zeit-nicht-mehr-vorhalten-11031738.html abgerufen am 14.06.2022

Reiser, M., Küppers, A., & Hebenstreit, J. V. (2021). Demokratie in der Corona-Pandemie: Ergebnisse des Thüringen Monitors 2021. Jena: KomRex – Zentrum für Rechtsextremismusforschung.

https://www.fh-erfurt.de/service-und-beratung/diskriminierung-radikalisierung-und-gewalt

Redaktionelle Betreuung und Endredaktion: Miriam Müller-Rensch