Vorabend, Eskalation und Folgen: Leben mit dem Syrienkonflikt. Ein Bericht zum Vortrag von Miriam Müller-Rensch.

Ein Beitrag von Alina Oftadeh und Miriam Müller-Rensch – Mit ihrem Kurzvortrag lotet die Friedens- und Konfliktforscherin Prof. Dr. Miriam Müller-Rensch die Möglichkeiten einer friedlichen Lösung in Syrien aus. Die Bilanz zum Stand heute ist ernüchternd – Die Hoffnung auf eine Besserung der Lage schwindet, die Konfliktlinien in Syrien haben sich seit dem Sommer der sogenannten Flüchlingskrise 2015 dauerhaft verfestigt.

Zudem sind die Bilder der notleidenden Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Vertreibung fliehen mussten über die Jahre verblasst. Sie werden überlagert von anderen medialen Diskursen, von der – vermeintlichen – räumlichen Distanz zu Syrien und, nicht zuletzt, von einem anderen großen Konflikt unserer Zeit: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch hier mobilisierten sich in kürzester Zeit große Gruppen Schutzsuchender gen Westen. Auch hier schwindet die Hoffnung auf eine baldige Lösung des Konflikts.

Doch: worin genau liegen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Situation in der Ukraine und Syrien, was macht Russland zu einer besonders mächtigen Kriegspartei und wie könnte eine Zukunft für Syrien aussehen? Auch diese Fragen stellt Müller-Rensch in ihrem Vortrag. Um jedoch die Zukunft Syriens –und die Bezüge des Konfliktes zur Lage in der Ukraine zu verstehen, brauche es zunächst den Blick zurück.

Vorabend und Beginn des Syrienkonfliktes

Es ist das Jahr 2010. Auf dem tunesischen Tahrir-Platz entzündet sich ein junger Mann aus Protest auf die in Folge der Lebensmittelkrise stetig steigenden Preise im Land. Dieser Akt des Widerstands markiert regelmäßig den Beginn des Arabischen Frühlings. Auch in Syrien herrscht Unzufriedenheit mit dem Regime und dessen Umgang mit Verteuerung und Wohnungsknappheit – doch über viele Wochen bleibt es still auf Syriens Plätzen und Straßen.

(c) Google Maps

2011 wird in der syrischen Stadt Dar’a eine Gruppe Jugendlicher als Reaktion auf regimekritische Graffitis festgenommen. Einige Tage später finden die Eltern Hamza Ali Al-Khatebs die  Leiche ihres 13-Jährigen Sohne vor ihrer Tür – und die Stadt und das ganze Land erheben sich. In (friedlichen) Protesten demonstriert Syrien gegen vierzig Jahre diktatorisches Regime der Familie Assad. Bashir, der als Nachfolger seines Vaters Hafez die nunmehr vierzigjährige Assad-Diktatur aufrechterhält, lässt diese blutig niederschlagen. Doch der Widerstand gegen den Machthaber nimmt zu. Tausende Soldaten  desertieren aus der syrischen Armee und gründen im Juni 2011 die „Freie Syrische Armee“. Diese wird zu einer der vielen Oppositionsgruppen, die zwar die Gegnerschaft gegenüber dem Diktator eint, die jedoch ansonsten sehr unterschiedliche Vorstellungen von und Wünsche für ein Syrien nach Assad formulieren.

 

Eskalation des Konflikts und Erstarken Daeshs (des sog. „Islamischen Staates“)

Zunächst scheinen die Gegner*innen des Assad-Regimes überlegen und er verliert zunehmend an Boden. Doch als ihm alte Verbündete wie der Iran und mit ihm die Hizb‘allah zur Hilfe kommen, wendet sich das Blatt. Gleichzeitig veranlasst Assad vermutlich die Entlassung hunderter Jihadisten aus syrischen Gefängnissen, um durch mehr Chaos auf den Straßen Gegengewalt zu rechtfertigen und so seine Macht zu sichern. Ein Nebeneffekt ist das Wiedererstarken der jihadistischen Gruppen der Region, das schließlich in der Ausrufung des „Kalifats“ des sogenannten Islamischen Staats gipfelt. Dessen Bekämpfung widmen sich vornehmlich „die Kurden“ und die von Großbritannien, Frankreich, Kanada, USA und der Türkei gebildete Allianz der „Operation Inherent Resolve“ – während Assad die Gunst der Stunde nutzt und weiter gegen die Opposition im Land vorgeht.

Russland wird zur Konfliktpartei

(c) Colourbox 2022

Dieser Umstand entlarvt das 2015 erfolgende Eingreifen Russlands – vermeintlich zur Unterstützung Assads gegen den IS – als eine rein an Eigeninteressen orientierte Mission. Entsprechend seiner politischen und geostrategischen Interessen stützt der Kreml nicht nur seinen wichtigsten Verbündeten in der Region, sondern erhält sich selbst mit Tartus seinen einzigen Zugang zum Mittelmeer. Gleichzeitig testet die russische Armee  zahlreiche alte und neue Waffensysteme in einer realen Kriegssituation – Erfahrungen, die Russland auf dem Feld seit dem Angriff gegen die Ukraine besonders zu Gute kommen.

Wenn auch erst auf den zweiten Blick, doch auch im Syrien-Krieg wird mehr als deutlich, dass Russland wenig Rücksicht auf international geltendes Recht, bzw. Kriegsrecht nimmt. So attackieren russische Kräfte gezielt zivile Ziele in Syrien aus der Luft – Bilder, die auch aus dem aktuellen Krieg gegen die Ukraine schmerzlich präsent sind.

Mit seinem Angriff auf die Ukraine als souveränem Staat der internationalen Staatengemeinschaft und die damit erfolgte Verletzung territorialer Integrität hat Russland eine neue Qualität der Missachtung internationalen Rechts erreicht. Neben dem Krieg gegen die Ukraine rückt insgesamt auch die Aussicht auf eine friedliche Lösung des Konfliktes in Syrien in weite Ferne. Russland und der Iran als „Blocking Powers“ müssten trotzallem Teil einer Lösung in Syrien sein, so Müller-Rensch. Vor dem aktuellen Hintergrund Russlands imperialer Politik in der Region und den offensichtlichen Expansionsbestrebungen des Kremls, sinke jedoch die Wahrscheinlichkeit eines Einlenkens in der Causa Syrien. Rund zehn Jahre nach Beginn des Krieges seien wir einer möglichen Lösung des Konfliktes nicht näher gekommen, im Gegenteil. Die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Kämpfe schwindet – und damit auch auf eine Ende des seit über einem Jahrzehnt von allen Syrerinnen und Syrern gelebten Ausnahmezustands.

Herausgeberschaft, Redaktionelle Betreuung und Endredaktion: Miriam Müller-Rensch