Ein Beitrag von Svenja Lotsch. Im 4. Inputvortrag im Rahmen der Strategie Radikalisierungsprävention [Erkennen. Verstehen. Entgegentreten.] der FH Erfurt adressierte Benjamin Winkler das Thema Verschwörungsideologien. Mit Fokus auf die Korrelation zu Antisemitismus deckte der Experte der Amadeu Antonio Stiftung verschwörungsideologische Funktionsweisen auf. Dabei nahm er insbesondere Bezug zu den Corona Demonstrationen in Sachsen und diskutierte mögliche Präventionsansätze.
Für die FH Erfurt als Teil der Erfurter Zivilgesellschaft ist das Wissen um die Ursachen für den Aufschwung der Verbreitung von Verschwörungsideologien in Krisenzeiten von besonderer Relevanz. Entsprechend nahm Benjamin Winkler folgende Fragen in den Blick: Was sind Verschwörungsideologien und in welcher Beziehung stehen sie zu Antisemitismus? Wieso verbreiten sie sich besser während Krisenzeiten, wie während der Covid-19-Pandemie? Wie können Prävention und Intervention zur Eindämmung der Verbreitung von Verschwörungsideologien gestaltet werden?
Erkennen – Was haben Verschwörungsideologien mit COVID-19 zu tun?
Im Frühjahr 2020 erreicht die Covid-19-Pandemie die Bundesrepublik. Daraufhin veränderten die in Kraft gesetzten Schutzmaßnahmen landesweit den Alltag aller.[1] Dabei verdeutlichen die Reaktionen[2] auf die parlamentarisch legitimierten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, dass Verschwörungsideologien keinesfalls ein Randphänomen sind: Derlei Erklärungsmythen können vielmehr in allen Teilen der Gesellschaft Zuspruch finden.
Als Verschwörungsideologien werden Versuche definiert, die letztendlichen Ursachen bedeutender sozialer und politischer Ereignisse und Umstände auf der Grundlage von Behauptungen über geheime Verschwörungen zweier oder mehrerer mächtiger Akteure zu erklären. (Vgl. Douglas et al. (2019) S.4) Diese Weltsicht ist charakterisiert durch den Glauben daran, dass das gesamte Weltgeschehen geplant ist, Zufälle nicht existieren (Intentionalismus) und alle einschneidenden Ereignisse miteinander verbunden sind. Ein weiteres wesentliches Charakteristikum ist die Annahme einer klaren Trennung und Unvereinbarkeit (Dualismus) von „Gut“ und „Böse“, welche die Menschheit eindeutig in wenige mächtige Verschwörer*innen und die unwissentlich manipulierte Allgemeinbevölkerung unterteilt. (Vgl. Butter (2018) S.22f) Herr Winkler erklärte, dass Verschwörungsideologien in Abgrenzung zu Verschwörungshypothesen unumstößlich sind und nicht durch belegbare Beweise korrigiert werden können. [Vgl. Pfahl-Traughber In: Reinalter (2002)] Die Empfänglichkeit für diese Art vereinfachende Erklärungen komplexer Situationen steigt in Krisenzeiten merklich an: Verschwörungsideologien bieten Halt in Zeiten anhaltender Hilflosigkeit, Kontrollverlust und Ungewissheit mithilfe scheinbar einfacher Erklärungen. (Vgl. Lamberty; Nocun In: Kleffner et al. (2021) S.119f)
Etwa ab Mai 2020 rückten Anti-Corona Proteste (auch: Hygienedemos, Querdenker*innen-Bewegung) zunehmend in den öffentlichen Fokus und mit ihnen zahlreiche Verschwörungsideologien, die innerhalb der Protestbewegung verbreitet wurden. (Vgl. Huesmann In: Kleffner et al. (2021) S.111) Als Besonderheit ist hervorzuheben, dass Gruppen und Individuen, die ansonsten wenig bis gar nichts miteinander zu tun haben, an dieser Protestbewegung partizipierten. So demonstrierten Familien und Einzelpersonen, die sich keinem politischen Spektrum zugehörig fühlen, neben Impfgegner*innen, Esoteriker*innen, Reichsbürger*innen und Rechtsextremist*innen. (Vgl. Balandat, Schreiter, Seidel-Arpacı In: Kleffner et al. (2021) S.102) Unsicherheit und Misstrauen hinsichtlich der Pandemie und den Schutzmaßnahmen wirkten als verbindendes Element. So ginge, laut Überzeugung der Protestbewegung, vom COVID-19 Virus kaum bis gar keine Gefahr aus, bzw. existiere das Virus überhaupt nicht. Stattdessen würde laut den Demonstrierenden die Pandemie als Vorwand genutzt, um grundlegende Rechte langfristig auszuhebeln und die Allgemeinbevölkerung besser kontrollieren zu können. (Vgl. Balandat et al. In: Kleffner et al. (2021) p.105f) Neben den pandemiebedingten Sicherheitsmaßnahmen standen daher auch die Bundesregierung, Virolog*innen, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen im Zentrum der Protestkritik. (Vgl. Litschko In: Kleffner et al. (2021) S.187f)
Verstehen – Die Korrelation zwischen Antisemitismus und Verschwörungsideologien
Winkler ging am Beispiel der Anti-Corona Proteste in Sachsen explizit auf das vermehrte Auftreten antisemitischer Verschwörungsideologien während der Pandemie ein, wodurch sich die 4. Short Lecture thematisch eng an die Vorangegangene zum Thema Antisemitismus anbindet.
Bei den Anti-Corona Demonstrationen in Sachsen (so wie in anderen Orten in ganz Deutschland) kam es unter anderem zur Verbreitung antisemitischer Verschwörungsideologien, sowie der Relativierung oder Leugnung der Shoa (auch: Holocaust). So wurde beispielsweise wiederholt die Idee einer „geheimen Elite“ verbreitet. Diese habe die COVID-19 Pandemie lediglich als Vorwand genutzt, um einen geheimen Plan (wie bspw. „The Great Reset“) umzusetzen. Der Verschwörungserzählung des „Great Reset“ zufolge, dienten pandemiebedingte Maßnahmen beispielsweise dem höheren Ziel die unwissende Gesellschaft besser manipulieren und kontrollieren zu können, indem Grundrechte wie Versammlungs- oder Meinungsfreiheit nachhaltig beschnitten würden. (Vgl. Balandat et al. In: Kleffner et al. (2021) p.105f)
Dem Phänomen der Verschwörungsideologien liegen, wie einleitend erläutert, Intentionalismus und Dualismus zugrunde. Der Schritt zu einem antisemitischen Weltbild , laut Winkler, dabei stets ausgesprochen nahe, da die Rolle der „bösen, alles planenden Verschwörer*innen“ im Antisemitismus regelmäßig jüdischen Personen bzw. der „jüdsichen Weltelite“ zugeschrieben wird. (Vgl. Lamberty; Nocun In: Kleffner et al. (2021) S. 118f). Jüdinnen und Juden* werden seit Jahrhunderten durch antisemitische Auffassungen mit Eigenschaften wie Boshaftigkeit, Macht oder Geldgier, aber insbesondere auch besonders hoher, und somit nicht durchschaubarer, Intelligenz assoziiert (Vgl. Balandat et al In: Kleffner et al. (2021) S.106f; Butter (2018) S.169) – Attribute die nahtlos in verschwörungsideologische Vorstellungen etabliert werden.
Der moderne Antisemitismus nutzt subtilere Codierungen wie „Weltverschwörung“ und „Weltelite“, anstatt Jüdinnen*Juden direkt zu benennen. Recherchen zur Ermittlung, um wen es sich bei der ominösen „Weltelite“ handelt, eröffnen schnell Verbindungen zu Grundinhalten antisemitischer Schriften und den darin enthaltenen Verschwörungsideologien. (Bspw. „Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik“). (Vgl. Wolf In: Data Politics (2021) S.149ff; Butter (2018) S.168f) Über Umwege wird so der gleiche Effekt erzielt: Jüdischen Menschen wird die Fähigkeit des „Strippenziehens“ zugeschrieben, die „Politik, Weltwirtschaft und Medien“ lenken könnten. Daher überraschte es nicht, dass diese Stereotype auch während der globalen COVID-19 Pandemie erneute Anwendung fanden.
Daraus ergeben sich ein antisemitisches Feindbild,Misstrauen gegen vermeintlich kontrollierte Bereiche (z.B. Medien, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik) und enormer Handlungsdruck, Widerstand gegen die angeblichen Verschwörer*innen zu leisten. Aus diesen Überzeugungen heraus werden regelmäßig antisemitische Marginalisierung und Gewalt legitimiert: Mit der zunehmenden Verbreitung antisemitischer Verschwörungsideologien innerhalb der Anti-Corona Demonstrationen, stieg auch die Fallzahl polizeilich erfasster antisemitisch motivierter Delikte deutschlandweit an und erreichte 2021 einen neuen Höchstwert von 3.027 (Vgl. BKA (2022) S.9)
Diese Entwicklung ist im Kontext der deutlichen Reduzierung sozialer Kontaktmöglichkeiten während der Pandemie besonders alarmierend.
Entgegentreten – Wie lassen sich Verschwörungsideologien entmystifizieren?
Neben informativen Einblicken zur Beschaffenheit und Wirkweise der Verschwörungsideologien, regte der Vortrag zur Reflektion des Umgangs mit (Des-)Informationen an. Im abschließenden Diskussionsteil beantwortete Herr Winkler weiterführende Fragen und zeigte Handlungsmöglichkeiten auf:
Welche Gründe gibt es für die Zunahme von Verschwörungserzählungen in Krisenzeiten. (z.B. 2008 – Finanzkrise, 2012 – Bürgerkrieg in Syrien, 2015 – Fluchtmigration nach Deutschland, 2020 – COVID-19 Pandemie)? „Verschwörungsideologien bieten einfache Antworten, wodurch das in Krisenzeiten aufkommende Empfinden von Kontrollverlust und Angsterleben scheinbar kompensiert werden kann,“ so Winkler.
Wie kann mit Studierenden umgegangen werden, die in schriftlichen Arbeiten (Hausarbeiten, BA-Arbeiten u.ä.) Bezug auf Verschwörungserzählungen nehmen? – Herr Winkler betonte im Hinblick auf diese Frage die Notwendigkeit eines sensiblen Umgangs in der Kommunikation mit den Studierenden, denn die Bezugnahme zu Verschwörungsideologien in wissenschaftlichen Arbeiten könne ein erstes Anzeichen eines Radikalisierungsprozesses sein. Es sei wichtig mit den Studierenden ins Gespräch zu treten und über Funktionsweisen und Gefahren aufzuklären.
Weitere Rückfragen bezogen sich auf Gründe für die absolute Meinungsverhärtung von Verschwörungsideolog*innen, die Verantwortung und Handlungsoptionen für alle Mitglieder der Gesellschaft und die antisemitische Konnotation von Symbolen, wie dem Marionettenspieler, Kraken oder der Spinne.
Aufgrund der zeitlichen Begrenzung der Short Lecture konnte nicht auf alle erfragten Aspekte angemessen eingegangen werden. Aus den diskutierten Inhalten ergab sich, der Bedarf stetig zu hinterfragen und angegebene Fakten zu überprüfen, selbst wenn es zu unangenehmen, oder verwirrenden Antworten führe.
Eine Vertiefung der Thematik ist im Rahmen der Ringvorlesung WS 22/23 – Gesichter der Antidemokratie mit einem Beitrag von Benajmin Winkler am 06.12.2022 vorgesehen.
Infobox: The Great Reset
Die angebliche Verschwörung des sogenannten „Great Reset“ (dt.: Großer Neustart) basiert auf einer gleichnamigen Initiative des Weltwirtschaftsforums (WEF) von 2020, die Optionen zur Erarbeitung einer nachhaltigeren, gerechteren globalen Wirtschaft diskutiert. Anstatt dem Klimawandel entgegenzuwirken, soll der „große Neustart“ der Verschwörungsideologie zufolge COVID-19 Pandemie gleichsam als Vorwand und Instrument zur Umstellung auf die neue Weltordnung und Begrenzung der Grundrechte genutzt werden. (Vgl. Steffen In: Kleffner et al. (2021) S.180f) „Great Reset“ [auch „Great Replacement“ (dt.: Großer Austausch)] ist keine Neuheit im Kosmos der Verschwörungserzählungen, sondern eine stetig abgewandelte „Art Überverschwörungserzählung […], in der man ganz viele andere Verschwörungserzählungen unterbringen kann.“ (Holnburger (Cemas) In: Huesmann, Sternberg (08.04.2021)) Den Kern der Verschwörungsideologie bildet der Mythos, laut dem eine globale Elite den geheimen Plan verfolge, die weiße, christliche Bevölkerung durch nicht-weiße und/oder anders gläubige Menschen zu ersetzen. (Vgl. Müller-Neuhof In: Kleffner et al. (2021) S.317; Amadeu Antonio Stiftung) Die Vorgehensweise dieser geheimen Elite sei dabei abhängig vom aktuellen Weltgeschehen in stetigem Wandel begriffen. Vor Corona dienten globale Ereignisse, wie beispielsweise die Banken- und Finanzkrise 2008 oder die Fluchtbewegungen 2015 als Projektionsfläche für diese Verschwörungserzählung. |
[1] Siehe tagesschau vom 10.03.2020
[2] Siehe Friedrich-Naumann-Stiftung (2020)
Literatur:
- Amadeu Antonio Stiftung. Deconstruct Antisemitism. Via: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/en/anti-semitism/deconstruct-antisemitism/ ,letzter Zugriff: 12.10.2022
- BKA (10.05.2022). Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2021. Bundesweite Fallzahlen.
- Butter, M. (2018). »Nichts ist, wie es scheint«: Über Verschwörungstheorien. 2. Auflage. Suhrkamp Verlag, Berlin.
- Friedrich-Naumann-Stiftung (2020): Globale Studie: Desinformationen durchdringen Gesellschaften weltweit. Juli 2020. Via: https://www.freiheit.org/de/globale-studie-desinformationen-durchdringen-gesellschaften-weltweit , letzter Zugriff: 12.10.2022
- Huesmann, F.; Sternberg, J.(08.04.2021): Gefährliche Mythen: Die Verschwörungserzählung vom „Great Reset“. RedaktionsNetzwerk Deutschland Via: https://www.rnd.de/politik/great-reset-was-die-verschworungserzahlung-so-gefahrlich-macht-VQ44NE735VF7DPGUPGS7JIOIDY.html , letzter Zugriff: 24.10.2022
- Kleffner, H.; Meisner, M (2021). Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde. Herder Verlag, Freiburg.
- Douglas, K. M., Uscinski, J. E., Sutton, R. M., Cichocka, A., Nefes, T., Ang, C. S., & Deravi, F. (2019). Understanding conspiracy theories. In: Political Psychology, 40, pp.3-35.
- Pfahl-Traughber, A. In: Reinalter, H. (Ed.). (2002). Verschwörungstheorien: Theorie-Geschichte-Wirkung. Studien Verlag.
- Tagesschau (10.03.2020): SARS-CoV-2: Coronavirus – und nun? Via: https://www.tagesschau.de/inland/corona-faq-103.html Zugriff. 20.10.2022
- Wolf, A. (2021). Funktionsweisen von Verschwörungserzählungen auf Social Media und der parallel aufkeimende Antisemitismus. In: Data Politics. Zum Umgang mit Daten im digitalen Zeitalter. Innsbruck University Press, S.149-161.
Grafik:
- Statista (2021). https://de.statista.com/infografik/22240/anzahl-der-antisemitischen-gewalttaten-in-deutschland/ (letzter Zugriff: 10.06.2022 10:00)
Weiterführende Literaturhinweise
- Douglas, K. M., Sutton, R. M., & Cichocka, A. (2017). The psychology of conspiracy theories. In: Current Directions in Psychological Science, 26(6), S.538–542.
- Zick, A.(Hg.); Küpper,B.(Hg.) (2021). Die geforderte Mitte-Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2021/21. Friedrich Ebert Stiftung. Edition.
Redaktionelle Betreuung und Endredaktion: Miriam Müller-Rensch