Ein Beitrag von Dr. Wolfgang Geiling – Am 27. November 2020 fand an der Hochschule Merseburg die online-Tagung „Ansichten wechseln“ statt. Die 23 Referent*innen und rund 150 Teilnehmer*innen diskutierten den Umgang mit aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Migration, Klima, Gewalt und Terror, Antisemitismus und Rassismus, Corona und „Verschwörungsideologien“.
Die folgende Frage leitete das Programm: Wie kann professionelles Wissen und Können der (systemischen) Sozialen Arbeit dazu genutzt werden, um andere Formen der politischen Auseinandersetzung anzuregen?
Zugänge akzeptierender Jugendarbeit
Franz Josef Krafeld, em. Professor für Erziehungswissenschaften an der Hochschule Bremen, knüpfte an fachlich kontrovers diskutierte Konzepte akzeptierender Jugendarbeit mit rechtsextremen Jugendlichen an und konstatierte eine „Hilflosigkeit des Antifaschismus“. Diese dokumentiere sich in „Spiralen der Wirkungsschwäche“ solange rechtsextremistische Orientierungen bekämpft würden. Unter Verweis auf das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und Zugehörigkeit seien alternative und fachliche Umorientierungen in Richtung emanzipatorischer Angebote ohne Vorleistung überfällig. Erst durch diese Zugänge jenseits moralisch gut gemeinter Belehrung, Ausgrenzung, Moralisieren und Polarisieren bestünden aussichtsreiche und praxiserprobte professionelle Optionen zur Unterstützung produktiver Subjekterfahrung von Menschen. Dass dies auf der Tagung auch Widersprüche provozierte, war zu erwarten. In Teilgruppen wurden Potentiale, Risiken und Grenzen einer emanzipatorischen Orientierung gegen Rechtsextremismus kurz diskutiert.
Menschen, Rechte und wir
Anschließend thematisierte Johannes Herwig-Lempp, Professor für Sozialarbeitswissenschaft und Systemische Sozialarbeit an der Hochschule Merseburg und Veranstalter der Tagung, in seinem Vortrag „Menschen, Rechte und wir“ das tradierte Wissen (systemischer) Sozialarbeiter*innen. Um Kontakte und Zugänge herstellen zu können brauche es Überwindung, Mut, Geduld und Hartnäckigkeit. Schwierigkeiten gebe es in Kontexten, in denen gefordert werde, dass mit Rechten nicht geredet werden dürfe. Die Unterscheidungen zwischen „Wir/Die“ und „Würde der Person/Handeln der Person“ sowie die Probleme im Umgang mit Kontingenz wurden zum Ausgangspunkt der Überlegungen von Herwig-Lempp. Er regte dazu an, im praktischen Handeln die eigene Meinung zunächst noch zurückzuhalten und/oder den eigenen Zweifel zu benennen. Neben der Frage der Grenzen (z.B. im Zusammenhang von Straftaten oder in Bezug auf Schutz von Menschen) solle nicht zuerst bei Anderen in moralischer Weise veränderte Denk- und Handlungsmuster eingefordert werden. Viel mehr gehe es darum, die eigene Perspektive zu prüfen. Interessant ist hierbei die parallele Welt im Chat: „Menschenverachtung konsequent entgegenstehen ist ein wichtiges Dogma!“.
Wirkung des Zuhörens
Inwiefern ist bereits Zuhören nützlich, um Ansichten eines Gegenübers zu verändern? Der Mediator Greg Bond von der Technischen Hochschule Wildau stellte seinem Workshop die These voran, dass dies ein Mythos sei. Zuhören bringe allenfalls Kontaktmöglichkeiten. Allerdings könne dies eine Voraussetzung darstellen für (Selbst-)Veränderung. Die Voraussetzungen, Potentiale, Grenzen und Risiken des Zuhörens kreisten in diesem Workshop um Aspekte der Gegenseitigkeit, der Macht der Diskurshoheit, der Definitions- und Sanktionsmacht. Die Diskussionen führten zu Fragen wie: Wozu Zuhören? Wie Zuhören? Wann nicht Zuhören? Und: Ist Zuhören und die Zurückhaltung der eigenen Meinung bereits stumme Zustimmung? Dies war ein ausschnitthafter Bericht zu einer sehr gelungen organisierten Tagung zu einem konfliktträchtigen Thema. Die beeindruckende Vielzahl und inhaltliche Vielfalt der Workshops konnte an dieser Stelle nur angedeutet werden.
Hinweise zur Tagung
Veranstalter: Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp, Professor für Sozialarbeitswissenschaft/Systemische Sozialarbeit an der Hochschule Merseburg mit Unterstützung des Fachbereichs Soziale Arbeit.Medien.Kultur an der Hochschule Merseburg in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Systemische Soziale Arbeit (DGSSA) sowie der Fachgruppe Systemische Sozialarbeit der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF).
Zur Tagungswebseite „ansichten wechseln“
Dr. Wolfgang Geiling arbeitet schwerpunktmäßig zu den theoretischen Grundlagen der Sozialen Arbeit mit einem Schwerpunkt auf Systemische Soziale Arbeit, zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule, sowie zu Beratung in Handlungskontexten Sozialer Arbeit.
Professionell zielgruppenorientierte Zugänge und Kontakte zu Klient*innen herzustellen, ist eine bereichsübergreifende Herausforderung von Sozialarbeiter*innen. Über Erfahrungen aus der Praxis, den persönlichen Zugang zur Lebenswelt traumatisierter Frauen zu finden, lesen Sie in dem Artikel „Sich selbst nicht verlieren: Soziale Arbeit mit traumatisierten Frauen“ .
Herausgeberschaft, Redaktionelle Betreuung und Endredaktion: Miriam Müller-Rensch