Trauma im Gepäck – Multi-Agency Ansätze in der Arbeit mit zurückgekehrten Kindern aus Syrien

Ein Beitrag von Verena Jung – Insgesamt 37 Kinder und 11 Frauen, die vormals dem sogenannten „Islamischen Staat“ angehörten, wurden im Oktober 2021 durch die deutsche und dänische Regierung aus Lagern der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien zurückgeholt. Passend dazu veranstaltete das Radicalisation Awareness Network (RAN) am 02. Dezember 2021 ein Webinar zur Arbeit mit Kindern aus den ehemaligen Gebieten des Islamischen Staates.

Im Fokus des Webinars standen die Herausforderungen, die sich im Zuge der Rehabilitation und des (Re-)Integrationsprozesses der aus ehemaligen IS-Gebieten zurückgeholten Kinder stellen. Welche Erfahrungen werden in der Arbeit mit den betroffenen Kindern gemacht? Worin liegen Chancen und Grenzen eines multiprofessionellen Ansatzes in der Rehabilitation der Familien?

Risikofaktor “Trauma”?

Syrien
Foto © Colourbox 2355695

 Von den rund 1150 deutschen Staatsangehörigen, die seit 2012 nach Irak und Syrien ausgereist sind, um sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen, ist bislang ein Drittel nach Deutschland zurückgekehrt. (Bundesamt für Verfassungsschutz 2021) Für die Akteure in der Prävention des religiös-begründeten Extremismus stellen sich in der Arbeit mit den zurückgekehrten Personen spezielle Herausforderungen. Eine von diesen liegt in der psychischen Verfassung dieser Personen – insbesondere der Minderjährigen: Aufgrund der extremen Gewalterfahrungen sowohl unter der Herrschaft des IS, als auch in den kurdisch-geführten Lagern wird eine Traumatisierung nahezu aller betroffenen Kinder angenommen (Vgl. Sischka 2020, 11).

Wie also umgehen mit den – in unterschiedlicher Intensität – traumatisierten Kindern? Für die Präventionsarbeit, so Heidi Ellis von der Harvard Medical School und dem Boston Children‘s Hospital, ist das Wissen um mögliche Folgen des Traumas (Angst, Alpträume, schwaches Selbstwertgefühl, sozialauffälliges Verhalten, Depression, u.v.m.) wichtig. Wie sich die Traumata tatsächlich auf die Entwicklung der betroffenen Kinder auswirken, werde jedoch durch individuelle Risiko- und Schutzfaktoren beeinflusst. Da Interventionen der Selbst-Regulation (inside-out) ebenso wichtig seien wie Interventionen der sozialen Umwelt (outside-in), plädiert Ellis für einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz: Als mehrstufiges Modell zielt das „Rehabilitation and Reintegration Intervention Framework“ (RRIF) auf die Unterstützung und Förderung von 1) individuellem Wohlbefinden und mentaler Gesundheit, 2) familiärer Unterstützung, 3) Bildungserfolgen, 4) lokalen Unterstützungsangeboten und 5) strukturellen Angeboten sowie der öffentlichen Sicherheit.

Die häufig angenommene Kausalität von Trauma und Radikalisierung der zurückgekehrten Kinder kann Heidi Ellis nicht bestätigen. Eine Traumatisierung stelle zwar einen Risikofaktor für Radikalisierungsprozesse dar, eine Kausalität sei jedoch nur dort zu erkennen, wo weitere Risikofaktoren wie Stigmatisierung und fehlende Integration auftraten. Insgesamt lassen sich die Annahmen einer hohen Rückfall- oder Radikalisierungsquote unter Rückkehrer*innen und ihren Kindern wissenschaftlich bislang nicht belegen (vgl. Renard 2020). Als Vertreter des Vereins Grüner Vogel e.V. ergänzt Kaan Orhon, dass Narrative über Rückkehrer*innen als „zukünftige Selbstmordattentäter*innen“ die betroffenen Kinder zusätzlich stigmatisieren und deren Integrationsprozesse beeinträchtigen. Der deutsche Verein Grüner Vogel e.V. bietet sich radikalisierenden Personen und ihren Angehörigen bundesweit Beratung an und berät im Zuge dessen auch Rückkehrer*innen aus Syrien.

Trauma im Gepäck
Stigmatisierungen – eine große Herausforderung für die zurückgekehrten Kinder aus Syrien (Foto © Colourbox42919406)

Zur Frage nach Stigmatisierungen klangen in der anschließenden Diskussionsrunde auch die Auswirkungen einer überbetonenden Präventionsarbeit auf die Integrationsprozesse an: Durch einen zu starken Fokus auf die besondere Situation der Kinder von Rückkehrer*innen aus Syrien könnten Praktiker*innen der Präventionsarbeit (unbeabsichtigt) zur Stigmatisierung dieser Kinder beitragen. “Don’t exceptionalize these children too much”, fordert Heidi Ellis.

(Re-)Integration als langfristige Herausforderung

Die Erkenntnisse aus Deutschland und den USA wurden um Praxiserfahrungen aus Finnland und dem Kosovo ergänzt: Im Kosovo wurden im Zuge der großen Rückholungsaktion 2019 gute Erfahrungen mit Hilfe eines „72-Stunden-Plans“ gemacht. Dieser ermöglichte eine Einschätzung der medizinischen und psychischen Verfassung der Rückkehrenden unmittelbar nach ihrer Ankunft im Kosovo (RAN 2021). Valbona Tafilaj vom University Clinical Centre of Kosovo berichtet über die Arbeit des Mental Health Center for Children and Adolescents, die dem hohen Bedarf mit psychologischen Unterstützungsangeboten begegnet. Erfolgreiche Bildungswege der Kinder und Empowerment der Mütter (z.B. durch das Erleben, die Familie ökonomisch versorgen zu können) benennt Tafilaj als Beispiele für gute Praxis und gelungene (Re-)Integrationsprozesse.

„The traumas will always be there and will be activated again and again“, hält Lotta Carlsson vom Projekt Exit2020 der Deaconess Foundation über die aufsuchende Arbeit mit zurückgekehrten Familien fest. Daher seien langfristige Unterstützungsangebote und Identitätsarbeit von Bedeutung. Auch Kaan Orhon plädiert dafür, die Situation der zurückgekehrten Kinder als langfristige Herausforderung wahrzunehmen: In vielen Fällen beginne das Beratungsverhältnis mit den Familien bereits, während diese noch in den syrischen Camps verweilen.

In die (Re-)Integration und Rehabilitation der zurückgekehrten Kinder aus Syrien sind Sicherheitsbehörden, Sozialarbeiter*innen der Jugendhilfe, Ärzte und Psycholog*innen, Institutionen wie Schulen oder Kitas, zivilgesellschaftliche Träger und das soziale Umfeld in unterschiedlichem Maße involviert. In den Praxisberichten wird „multi agency“ als Schlüsselelement benannt.

multi-agency:
Der Begriff stammt aus dem Englischen und beschreibt eine Vorgehensweise, in der unterschiedliche Akteure interdisziplinär miteinander kooperieren.
(Vgl. Definition von multi-agency (2021). Oxford University Press. https://www.lexico.com/definition/multi_agency (Zugriff: 07.01.2022))

multi-agency
Multi-Agency Ansätze basieren auf ganzheitlicher und interdisziplinärer Kooperation (Foto © Colourbox 6555911)

Ein solches interdisziplinäres Arbeiten sieht Heidi Ellis als Prozess, bei dem die beteiligten Akteure von- und übereinander lernen und ihre jeweilige Expertise als ganzheitlichen Ansatz zur Unterstützung der betroffenen Kinder zusammenbringen. Zudem sollten diese Akteure, unabhängig von ihrer Profession oder Rolle, in interkulturellen Kompetenzen und spezifischem Wissen zur Religion des Islam geschult werden.

Radicalisation Awareness Network: Seit 2011 vereint das Radicalisation Awareness Network (kurz: RAN) Praktiker*innen, die in der Prävention von Radikalisierung und gewaltbereitem Extremismus tätig sind. Akteuren der Sozialen Arbeit, des Gesundheitswesens, der Justiz, zivilgesellschaftlicher Träger und lokaler Behörden wird hier eine Plattform geboten, sich in Arbeitsgruppen über Praxiserfahrungen auszutauschen. Die Arbeit des Netzwerks und gewonnene Erkenntnisse werden in regelmäßigen Publikationen festgehalten.

Stellungnahme der RUK: Kinderrechte schützen – ein klarer Auftrag für die Soziale Arbeit

Das RAN-Webinar “working with children returning from Daesh-affiliated territories: exploring multi-stakeholder approaches to rehabilitation” hat aus Sicht der RUK praxisrelevante Perspektiven aufgezeigt, wie die (Re-)Integration der Rückkehrer*innen und ihrer Kinder gelingen kann: Keinesfalls kann sie nur Aufgabe der Sicherheitsbehörden oder zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen sein. Vielmehr braucht es funktionierende multiprofessionelle Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Deutlich wird indes auch: (Re-)Integration und Rehabilitation von (ehemaligen) IS-Anhänger*innen und ihren Kindern setzt die Möglichkeit zur Rückkehr dieser Menschen voraus:

„I am profoundly convinced that actively repatriating, rehabilitating and re-integrating these children without further delay is a human rights obligation and a humanitarian duty.” (Schennach 2020, 11)

Die jüngste und bislang größte Rückholaktion der Bundesregierung im Oktober 2021 zeigt, dass die Rückführung der verbliebenen Männer, Frauen und Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit möglich ist. Angesichts der Berichte über katastrophale Zustände in den syrischen Lagern ist die Soziale Arbeit hier auch international gefragt. Denn, so definiert die International Federation of Social Workers, die Wahrung der Menschenrechte ist eines der übergreifenden Prinzipien der Sozialen Arbeit. Besonders mit Blick auf die Vulnerabilität und Schutzbedürftigkeit von Kindern muss sich Soziale Arbeit daher für die Rückholung ebendieser starkmachen.

Über weitere Herausforderungen in der multiprofessionellen Zusammenarbeit und die Rolle der Sozialen Arbeit in der Tertiärprävention hat Mira Schwarz Dr. Harald Weilnböck vom Verein Cultures Interactive e.V. interviewt.

Verena Jung studiert Internationale Soziale Arbeit (M.A.) an der Fachhochschule Erfurt und arbeitet als wissenschaftliche Assistentin an der Forschungsstelle RUK. In ihrem Masterprojekt beschäftigt sie sich mit der Frage nach dem Kindeswohl in der Radikalisierungsprävention.

Bibliografie

Herausgeberschaft, Redaktionelle Betreuung und Endredaktion: Miriam Müller-Rensch