Ein Beitrag von Anna Maria Fink – Inwiefern ist Soziale Arbeit in der Lage, bei kriegsbedingter sexueller Gewalt professionell zu unterstützen? Was ist ihre Aufgabe und was kann sie leisten, insbesondere dann, wenn sich transgenerationale Traumaweitergabe bereits manifestiert hat? Antworten suchte Anna Fink 2022 während ihrer Forschungsreise in Bosnien-Herzegowina
Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden zwischen 1992 und 1995 zwischen 20.000 und 50.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt, ausgebeutet und gefoltert (vgl. Stiglmayer, 1994). Auch heute ist sexuelle Gewalt gegen Frauen in Südosteuropa weit verbreitet (vgl. Organization for Security and Co-operation in Europe, 2019). Die Aufarbeitung der Kriegsjahre auf dem Balkan geht indes nur schleppend voran – ungeachtet einiger Fortschritte, wie der Einführung von Mechanismen zur Entschädigung Überlebender sexualisierter Kriegsgewalt. Die erlebte (sexuelle) Gewalt, die bis heute mit sozialer Ausgrenzung, Schweigen über den Krieg und Stigmatisierung einhergeht, wirkt auch in den familiären Kontext hinein. So werden Traumata auch sekundär an die nächste Generation weitergegeben (vgl. Griese, 2006).
Internationale wie nationale politische Debatten ignorieren regelmäßig die Perspektive der Überlebenden (vgl. Simić, 2018). Um dem entgegenzuwirken und einen Beitrag zur ausstehenden Debatte zu leisten, fokussiert die Forschung der Masterthesis auf die Handlungsfähigkeit Sozialer Arbeit im Kontext der Traumaarbeit in Bosnien-Herzegowina (BiH).
„Transgenerationale Traumaweitergabe“ bezeichnet die meist unbewusste Weitergabe traumatischer Erfahrungen an die nachfolgenden Generationen und an die Gesellschaft. Menschen in der nächsten Generation zeigen die Symptome eines Traumas, ohne das Trauma selbst erlebt zu haben. in: Husić, S., Osmanović, E., Đekić, F., & Heremić, L. (2014). We are still alive: Research on the long-term consequences of war rape and coping strategies of survivors in Bosnia and Herzegovina. |
Forschen in einem noch immer zerrütteten Land
Empirisches Herzstück der Forschung sind Interviews mit Expert*innen zu sexualisierter (Kriegs-)Gewalt in BiH. Ausgehend von fünf Interviewterminen mit Sozialarbeiterinnen, Therapeutinnen, Rechtsanwältinnen und NGO Leiterinnen in Tuzla, Zenica und Sarajevo, ergaben sich weitere Gesprächssituationen vor Ort – auch und insbesondere mit Überlebenden sexualisierter Kriegsgewalt. Die Schilderungen waren eindrücklich und hilfreich, um die Expertinneninterviews zu kontextualisieren.
Ob im Rahmen eines formellen Interviewtermins mit Leiterinnen, oder bei einem informellen Getränk im Lieblingscafé der Sozialarbeiterin – eines wurde immer wieder betont: Der Krieg auf dem Balkan in den 90er Jahren und seine Folgen sind tief im bosnischen Gesellschaftsgedächtnis verankert. Nur ein Bruchteil der Menschen in BiH thematisieren ihre Kriegserlebnisse – diese Zeit bleibt bis heute ein Tabuthema. Dies trägt dazu bei, dass die Betroffenen die traumatische Erfahrung als schwerwiegende Kränkung und Herabwürdigung ihr Leben lang mit sich tragen. Hierdurch können sich Emotionen wie Verbitterung, Zorn oder sogar Hass gegenüber den Bevölkerungsgruppen, denen eine Schuld am erlittenen Leid zugeschrieben wird, verfestigen und an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Der Schlüssel, um die Spirale von Hass und Gewalt zu durchbrechen, sei jedoch die offene Thematisierung und das Fördern interethnischer Vergangenheitsbewältigung (Medica Mondiale, 2018).
Für internationale, aber auch nationale politische Strukturen erscheinen die brutalen Geschehnisse im Bosnienkrieg schon lange nicht mehr relevant, so berichten die Leitungen zivilgesellschaftlicher Initiativen, die Jahr für Jahr um staatliche finanzielle Unterstützung kämpfen. Dies habe vor allem gesellschaftliche Auswirkungen, wie die weitere Stigmatisierung und Ausgrenzung der Überlebenden, aber auch finanzielle Konsequenzen: Wenn bosnische NGOs keine staatlichen Gelder mehr beziehen können, wird dadurch eine dauerhafte finanzielle Unterstützung von traumabedingt berufsunfähigen Überlebenden unmöglich.
Soziale Arbeit in Bosnien-Herzegowina: Stärke in der Vielfalt
Bereits zu Beginn des Jugoslawienkrieges in den 90er Jahren bildeten sich internationale sowie nationale zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich den akuten Problemen der vergewaltigten Betroffenen mit gynäkologischer Hilfe, aber auch therapeutischen Angeboten stellten (Loncar et al, 2006). Derzeit werden in Rehabilitationszentren und NGOs sowohl verschiedene Formen von Psychotherapien, als auch psychosoziale Angebote, wie bspw. Familienberatung, angeboten, berichten die NGO Leiterinnen. Diese werden von Sozialarbeiterinnen koordiniert und durchgeführt. Überlebende, die durch ihr Trauma berufsunfähig sind, können sowohl wirtschaftliche als auch finanzielle Hilfe in Anspruch nehmen, die von Sozialarbeiterinnen organisiert wird.
Außerdem kämpfen NGOs vor allem gegen die Stigmatisierung der Überlebenden: Sozialarbeiter*innen bringen sich über politische Gremien aktiv in der Interessensvertretung für Überlebende ein. Aber auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene setzt sich bosnische Soziale Arbeit für eine Entstigmatisierung und ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Problematik in Form von Kampagnen, Workshops und Weiterbildungen ein.
Um schließlich eine transgenerationale Weitergabe der Traumata bei Betroffenen zu verhindern, sei nicht nur die therapeutische Begleitung eine unverzichtbare Maßnahme, sondern auch das gesellschaftliche Aufklären und Sichtbarmachen der Thematik spiele hierbei eine wichtige Rolle, berichtet mir eine Sozialarbeiterin. Sie führt weiter aus, dass Sozialarbeiterinnen bildungspolitische Schulungen durchführen, die für die Thematik sensibilisieren sollen, beispielsweise bei der Polizei. Die Präventionsarbeit an Schulen sei jedoch genauso unverzichtbar und sei entsprechend ebenso Teil der Sozialen Arbeit in BiH.
Ein Plädoyer für die bosnische Soziale Arbeit im Kontext von Traumaarbeit
Es ist vor allem die Soziale Arbeit, die die Aufarbeitung von sexueller (Kriegs-)Gewalt in BiH gestaltet. Sozialarbeiterinnen analysieren zunächst Bedürfnisse der Überlebenden, koordinieren und begleiten dann die passenden Angebote für Überlebende. Die bosnische Soziale Arbeit kommt durch ein solches Anbieten und Begleiten von Hilfsstrukturen eine unabdingbare Stellung innerhalb der bosnischen Gesellschaft zu, auf welche die Überlebenden nicht verzichten können und möchten – wie mir eine Therapeutin schilderte.
Das starke Mitwirken durch verschiedene Angebotsstruktur auf unterschiedlichen Ebenen und die einhergehende Selbstbefähigung, die sich die bosnische Soziale Arbeit dadurch zuschreibt, macht den Eindruck einer selbstbewussten und autonom strukturierten Arbeit. Die Angebotsstruktur der Sozialen Arbeit ist nicht nur für die Überlebenden essentiell, sondern auch, um Aufmerksamkeit zu generieren und über die gesellschaftlichen Folgen der Verbrechen in den 90er Jahren voranzutreiben.
Bosnische Soziale Arbeit als Vorbild
Die Forschungsreise nach BiH hat die Vermutung bestätigt, dass es heute, drei Jahrzehnte nach Kriegsende, umso bedeutender ist, die gesellschaftlichen Konsequenzen, die das Totschweigen der Folgen kriegsbedingter sexueller Gewalt mit sich bringt, zu thematisieren. Kriegstraumata werden in der breiten bosnischen Gesellschaft immer noch mit sich getragen.
Die Spuren des Bosnienkrieges sind immer noch in der bosnischen Gesellschaft sichtbar. Die Aufgaben, die damit einhergehen, sind aus diesen Gründen immens. Doch hat die Forschungsreise deutlich werden lassen, dass bosnische Soziale Arbeit insbesondere im Traumakontext selbstständig, vielschichtig und professionell agiert und sich nicht davor scheut, auch politisch Position zu beziehen. Insbesondere die selbstverständliche Eigenständigkeit in der Arbeitsweise und das politisches Mandat, mit dem Druck auf Politik gemacht wird, kann sich die Soziale Arbeit bspw. in Deutschland zum Vorbild nehmen.
Anna Maria Fink Fink studierte im Master Internationale Soziale Arbeit an der Fachhochschule Erfurt. Ihr Praxissemester absolvierte sie am Forschungsinstitut Post Conflict Research Center in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina. Ihre thematischen Schwerpunkte aus dem Masterstudium sind Soziale Arbeit in kriegerischen Konflikten und in Post-Konflikt Gesellschaften. Ihr besonderes Interesse gilt der nationalen als auch internationalen Sozialen Arbeit im Ex-Jugoslawischen Kontext und den einhergehenden Transitional Justice Prozessen. In ihrer Masterarbeit forschte sie im Themenfeld konfliktbezogene sexuelle Gewalt und beleuchtete die Rolle der (internationalen) Sozialen Arbeit in, während und nach den Jugoslawienkriegen.
Verwendete Literatur:
Griese, K (Ed.). (2006). Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen: Handbuch zur Unterstützung traumatisierter Frauen für verschiedenen Arbeitsfeldern. Mabuse Verlag.
Organization for security and Co-operation in Europe (2019). Well-being and safety of woman: OSCE-led survey on violence against woman (main report).
Simić, O. (2018). Silenced victims of wartime sexual violence. Routledge.
Stiglmayer, A. (Ed.). (1994). Mass rape: The war against women in Bosnia-Herzegovina. U of Nebraska Press.
Loncar, M., Medved, V., Jovanović, N., & Hotujac, L. (2006). Psychological consequences of rape on women in 1991-1995 war in Croatia and Bosnia and Herzegovina. Croatian Medical Journal, 47(1), 67–75.
Herausgeberschaft, Redaktionelle Betreuung und Endredaktion: Miriam Müller-Rensch