Ein Beitrag von Miiriam Müller-Rensch – Das Forschungs- und Habilitationsprojekt von Miriam Müller-Rensch (2016-2023) beschäftigt sich kritisch mit Fragen politischer Ordnung und Herrschaft im Krieg und der Schaffung nachhaltiger politischer Ordnungen in Postkonflikt-Kontexten am konkreten Fallbeispiel der Herrschaft der Gruppe „Islamischer Staat“ (Daesh) in Gebieten Iraks und Syriens. Die Gruppe Daesh wird dabei als Teil der globalen, sozialrevolutionären Bewegung des jihadistischen Salafismus begriffen. Ziel des Projektes ist es, die transformativen Effekte des alternativen Herrschaftsmodus Daeshs auf die Gesellschaft (society), Gemeinschaft (community) & das Zusammenleben (social relationships) der durch die gruppe kontrollierten Gebiete auf Makro-, Meso- und Mikroebene zu erfassen.
Der „Islamische Staat“ (Daesh) als staatlicher und nicht-staatlicher Akteur
Hypothese: Politische Ordnung im Krieg entfaltet Langzeiteffekte auf politische Postkonflikt-Ordnungen in Kontexten
Forschungsgegenstand: Analyse des „alternativen Herrschafts-Modus“ des sog. „Islamischen Staates in Irak und Syrien“ (Daesh) von 2013 bis 2017
Erkenntnisinteresse: Langzeiteffekte auf sozio-politische Gemeinschaften in Wiederaufbau einbeziehen
Empirische Grundlage: Erfahrungen der Zivilbevölkerung & Mitglieder Daeshs mit Herrschafts-Modus; durch Daesh selbst verfasste Dokumente
Perspektive: Berücksichtigung der individuellen (Gewalt-)erfahrung im Wiederaufbau in Post-Konfliktkontexten
Mit der fortschreitenden Destabilisierung des Nordirak und der Eskalation des Bürgerkrieges in Syrien gelang es der jihadistisch-salafistischen Gruppierung Daesh (sog. „Islamischer Staat“), aber auch anderen bewaffneten Gruppen, wie beispielsweise der Fattaḥ Al-Shām, über signifikante Zeiträume hinweg Anspruch auf die an Territorialität geknüpften, staatstypischen Gestaltungs- und Ordnungsfunktionen in den von den Gruppen kontrollierten sozio-politischen Gemeinschaften zu erheben. In diesem Prozess ziehen derlei nichtstaatliche Akteure, ob nun lokalen, nationalen und transnationalen Charakters, graduell staatstypische Leistungen aber auch Ansprüche immer dann an sich, wenn diese nicht oder nur unzureichend gewährleistet, bzw. eingefordert werden. Entsprechend des Vermögens dieser Akteure ihre Interessen im konkreten lokalen Kontext durch oder gegen die Akzeptanz der Bevölkerung zu verfolgen und durchzusetzen, können diese dann, zumindest phasenweise, als zum Staat konkurrierender Souverän i.S. von „multiple sovereignties“ auf dem von ihnen kontrollierten Gebiet auftreten. Das Erleben und Erleiden dieser „alternativen Governance-Modi“ bildet für die Zivilgesellschaft mitunter den präsentesten Bezugspunkt für die Bewertung zukünftiger Regierungsangebote. Individuelle Erfahrung und kollektives Gedächtnis sozio-politischer Gemeinschaften sind somit entscheidend für Strategien und Instrumente des (Wieder-) Aufbaus legitimer Governance-Regime als Gerüst nachhaltiger Friedensordnungen und somit langfristiger Konfliktprävention.
Forschungsdesign
Das Forschungsdesign stellt die Umsetzung alternativer Herrschaft durch Daesh und die gesellschaftlichen Effekte des „Kalifatsprojektes“ als Teil des globalen jihadistischen Salafismus in Irak und Syrien ins Zentrum der Analyse. Die Gesamtheit der dort im Zeitraum 2013 bis 2017 beobachtbaren Governance-Praktiken wird als alternativer Herrschaftsmodus („alternative mode of governance“) verstanden, wobei die Ergebnisse einen Beitrag zur Erforschung gesellschaftlicher Transformation sowie Governance-Forschung leisten sollen. Auf der Grundlage einer differenzierten Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Transformation, klassischen Konzepten des State- und Nation-Building und aktuellen Governance-Ansätzen, nimmt das Design die Bereiche Sicherheit (policing & surveillance, Militärgewalt), Recht (Gerichtsbarkeit, Strafrecht und Strafen, Verwaltungsrecht und –verfahren), Bildung und Erziehung (Familie, Schule, Universitäten) und die physische und narrative/virtuelle Integration und Abgrenzung des Gemeinwesens (Grenzregime, Mitgliedschaft, „citizenship“) in den Blick.
Methodischer Zugang und Empirie
Methodischer Zugang zu den Governance-Praktiken Daeshs ist neben der Analyse von Dokumentenfunden und Publikationen der Gruppierung eine ethnologisch-orientierte Situationsanalyse der Berichte von Augenzeugen über Interviews mit Geflüchteten und Opfern der Herrschaft des sog. „Islamiscehn Staates“ in Deutschland, Jordanien und Irak (vor Ort und online), aber auch ehemaliger Mitgliedern der Gruppe „Islamischen Staat“ in deutschen Justizvollzugsanstalten (Forschung derzeit in Niedersachsen und NRW)
Bisherige Publikationen im Projekt:
- On top of the Revolutionary Game. Uncovering the “Islamic State’s” revolutionary message, in: Ditrych, Ondrej/Zahora, Jakub (Hg.), ISIS and the Others: Hybrid Revolutionaries in Global Politics, Edinburgh University Press, forthcoming 2022.
- Einfache Antworten in einer Welt der Krisen? Über Erfolg und Grenzen des „Islamischen Staates“, in: Lutz, Ronald/Staus, Alexander, Soziologie Politischer Krisen, Juventa, 2018.
- Terror or terrorism? The „Islamic State“ between state and nonstate violence. in: Digest of Middle East Studies. 26(2017) 2, 442-462.
- Staatlicher Zerfall und Bürgerkrieg in Syrien seit 1990, in: Lemke, Bernd (Hg.), Irak und Syrien. Schöningh, 2016, 179-187.
- Terror oder Terrorismus? Der „Islamische Staat“ zwischen staatstypischer und nichtstaatlicher Gewalt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Vol. 66, No. 24/25, 2016, 27-32.
- Noch nutzt die „Verorganisierung“ dem „Islamischen Staat“. Eine Antwort auf Stefan Kühl und die „Verorganisierung“ des Islamismus, Sozialtheoristen.de, 3.Dezember 2015 in: https://sozialtheoristen.de/2015/12/03/noch-nutzt-die-verorganisierung-dem-islamischen-staat/ (letzter Zugriff am 16.Juli 2021)
Herausgeberschaft, Redaktionelle Betreuung und Endredaktion: Miriam Müller-Rensch