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Gemeinwohl fördern, Delinquenz minimieren – der Landespräventionsrat Thüringen stellt sich vor

Heike Würstl vom Landespräventionsrat Thüringen im Interview mit Verena Jung –

Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehr und Rettungsdienste, urbane Sicherheit,  Radikalisierung und Antisemitismus – diese und viele weitere Handlungsfelder sind die Herausforderungen, bei denen Praxis und Wissenschaft, Staat und Zivilgesellschaft in Thüringen zusammenarbeiten. Netzwerke zu etablieren und diese Kooperation zu verbessern, ist eine der Aufgaben des Landespräventionsrates Thüringen (LPR). Seit 2019 gestaltet Heike Würstl vom LPR diese Arbeit aktiv mit.

Seit 2019 koordiniert und gestaltet Heike Würstl für den Landespräventionsrat die Präventionsarbeit im Land Thüringen mit. Als ausgebildete Polizeibeamtin war sie lange Jahre im Streifeneinzeldienst im Einsatz in der operativen Fallanalyse im Landeskriminalamt und der kriminalistisch-kriminologischen Forschungsstelle aktiv. Nach ihrem Studium der Soziologie wechselte Würstl in die Stabsstelle Polizeiliche Extremismusprävention und arbeitet seit nun mehr fünf Jahren in der Geschäftsstelle des Landespräventionsrats.

Verena Jung: Der Landespräventionsrat (LPR) Thüringen ist ein Fachgremium zur landesweiten Kriminalprävention. Welche Funktionen und Aufgaben hat der LPR?

(c) Pixaby weekly onlooker 2024
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Heike Würstl: Als Landespräventionsrat verstehen wir uns als ressortübergreifendes Gremium, was sich auch in der Zusammensetzung des Beirates zeigt. Hier sind die Staatssekretär*innen aus sechs Thüringer Ministerien vertreten, der Staatssekretär der Thüringer Staatskanzlei und auch die Geschäftsführer bzw. Stellvertreter des Gemeinde- und Städtebundes und des Thüringer Landeskreistages. Zentrale Aufgabe des Landespräventionsrates ist die Förderung und Weiterentwicklung von Präventionsangeboten und -strukturen in Thüringen. Hier gilt es, präventionsrelevante Akteure und Akteurinnen miteinander zu vernetzen. Oftmals ist es so, dass solche Akteure gleichgelagerte Probleme haben, aber gar nicht voneinander wissen. Insofern ist der Netzwerkgedanke ganz entscheidend. Gleichzeitig präsentiert der LPR relevantes Wissen wie neue Forschungs- und Evaluationsergebnisse in Form von Publikationen und verschiedenen Veranstaltungsformaten. Schließlich berät der Landespräventionsrat die Thüringer Landesregierung in Präventionsfragen.

Verena Jung: Sie selbst sind Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des LPR Thüringen: Diese fungiert als zentrale Kontakt-, Koordinierungs- und Kompetenzstelle. Welche Aufgaben umfasst das konkret?

Heike Würstl: In der Geschäftsstelle koordinieren wir die Arbeit des Landespräventionsrates. Das heißt wir erfassen und entwickeln Strukturen und fungieren als Schnittstelle des Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis. Neben der Koordination der Arbeitsgruppen halten wir Kontakt zu verschiedenen Gremien auf internationaler, nationaler oder landesweiter Ebene. Unser Ziel ist, dass wir erstmal von allen Akteuren wissen und im ständigen Austausch sind – das umfasst andere Gremien, aber auch Akteure aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung. Im Prinzip alle, die wichtig sind, um Prävention weiterzuentwickeln. Zu unseren Aufgaben gehört aber auch die regelmäßige Recherche von Datenbefunden. Wir analysieren welche Forschungsergebnisse für unsere Arbeit wichtig sind und erheben z.T. selbst Daten. Außerdem fördern wir die Antidiskriminierungsberatung EwpowerMensch, die Hatespeechberatungsstelle elly, sowie kleinere Präventionsprojekte in Thüringen finanziell.

 Verena Jung: Welche thematischen Schwerpunkte haben die besagten Arbeitsgruppen und wie wird innerhalb der Gruppen gearbeitet?

(c) Pixaby Freak06 2024Heike Würstl: Die Arbeitsgruppen sind in verschiedenen Phänomenbereichen aktiv: Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehr und Rettungsdienste, Urbane Sicherheit, Gewalt- und Radikalisierungsprävention, Antisemitismus, Schändung von Grabmalen und Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt im digitalen Raum. Sie setzen sich überwiegend aus ehrenamtlichen Mitgliedern und Mitglieder, die im Hauptamt in anderen Strukturen tätig sind, interdisziplinär zusammen. In regelmäßigen Arbeitsgruppentreffen werden Problemfelder diskutiert und Lösungsansätze erarbeitet.

Taucht eine Thematik gehäuft auf und das Einrichten einer Arbeitsgruppe ist angezeigt, erfolgt unsererseits zunächst ein Ist-Soll-Abgleich: Welche Probleme liegen vor und wo soll es hingehen? Was sagen Wissenschaft und Forschung? Und welche Strukturen, Projekte und Handlungsempfehlungen gibt es in Thüringen bereits? Das bildet die Arbeitsgrundlage für gezielte Maßnahmen oder Optimierung vorhandener Strategien. Am Beispiel der Gewalt gegen Einsatzkräfte lässt sich das ganz gut verdeutlichen: Während in der Öffentlichkeit die Zunahme von Gewalt gegen Einsatzkräfte vermehrt diskutiert wurde, lässt sich dies anhand der polizeilichen Kriminalstatistik in Thüringen nicht belegen. Stattdessen ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Die entsprechende Arbeitsgruppe hat daher zunächst den Forschungsstand erhoben, eine Befragung Thüringer Einsatzkräfte durchgeführt und auf dieser Grundlage mögliche Lösungsansätze entwickelt. Inzwischen gibt es u.a. eine Informationsplattform für Einsatzkräfte zu Möglichkeiten der Gewaltverhinderung und auch psychosozialer Nachbetreuung sowie Materialien, die für die Sensibilisierung der Einsatzkräfte und der Bevölkerung für das Thema verwendet werden können

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Verena Jung: Schon im Namen des LPR steckt das Wort „Prävention“. Was genau soll verhindert werden, bzw. wo setzt die Arbeit des Landespräventionsrates an?

Heike Würstl: Im Fokus der Arbeit steht für uns die Förderung des Gemeinwohls und die Verhinderung bzw. die Minimierung von Delinquenz. Wir arbeiten bewusst mit dem Delinquenzbegriff, weil er auch jene Verhaltensweisen umfasst, die nicht unter das Strafrecht fallen. Damit können Verhaltensweisen in den Blick genommen werden, die die öffentliche Ordnung stören. Phänomene wie Radikalisierung beispielsweise führen nicht zwangsweise in Kriminalität, können aber in Kriminalität münden. In modernen Gesellschaften gehört es zu den Aufgaben des Staates, das friedliche Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten. Das wiederum funktioniert nur, wenn sich die Menschen sicher fühlen – das umfasst sowohl die objektive Sicherheit, also statistische Zahlen und Fakten über Straftaten, als auch das subjektive Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung.

Infobox Radikalisierung: Eine Arbeitsdefinition des LPR

Radikalisierung ist ein umstrittener, regelmäßig politisierter Begriff.  Der LPR orientiert sich am Konzept der „entwicklungsorientierten Radikalisierungsprävention“ von Prof. Dr. Andreas Beelmann. Danach meint Extremismus die „signifikante Abweichung in Einstellungen und Handlungen von bestimmten grundlegenden Rechtsnormen und Werten der Gesellschaftsordnung […] und [ist] auf die mindestens partielle Abschaffung und Ersetzung dieser Norm- und Wertesysteme ausgerichtet.“ Radikalisierung bezeichnet in diesem Sinne den „Prozess, wie sich Individuen oder Gruppen an extremistische Einstellungs- und Handlungsmuster schrittweise annähern, […] wobei dieser Prozess nicht notwendigerweise im Extremismus enden muss.“ (Beelmann/Neubacher, 2022, S.9)

Ein alternativer Ansatz, um die hier beschriebenen Phänomene zu fassen, ist das Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeinlichkeit“ (bspw. Küpper/Zick, 2015). Mehr dazu auch im Beitrag „Verschwörungsglaube und Religion- Zusammenhänge aufdecken, Gefahren Erkennen“ hier im RUK-Blog.

Verena Jung: Aus den Erfahrungen der letzten Jahre – Welche Aspekte sind in dieser Hinsicht in der Präventionsarbeit in Thüringen gerade besonders präsent?

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Heike Würstl: Das sind vorrangig Themen, die wir mit den Arbeitsgruppen abdecken oder finanziell fördern. Präsent ist immer wieder die Gewalt gegen Staatsbedienstete. Inzwischen sind auch Politiker*innen dazu gekommen: Mandatsträger*innen, Bürgermeister*innen, die beleidigt werden oder Fackelmärsche vor ihren privaten Wohnhäusern erleben. Insgesamt hat das Thema Radikalisierung an Schärfe gewonnen. Aber eben auch Themen wie Antisemitismus oder Sicherheit in den Kommunen. Hier geht es darum, vor allem innerhalb der Kommunen Präventionsstrukturen zu etablieren, die diesen Herausforderungen auch gewachsen sind.

Litertatur:

  • Beelmann, A./Neubacher, F. (2022): Rationale Kommunikation über Ursachen und wirksame Prävention setzen  ein gemeinsames Verständnis von Radikalisierung und Extremismus voraus, in:  Andreas Beelmann/Lena Lehmann (Hrsg.), Radikalisierung im digitalen Zeitalter. Handlungsempfehlungen an Politik, Praxis und Gesellschaft. Langfassung. Hannover, Jena: Kriminologisches Forschungsinstitut e.V. und Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration (KomRex), Friedrich-Schiller-Universität Jena, S. 9-16.
  • Küpper, B. /Zick, A. (2015): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/214192/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit/ [26.10.2022]
Disclaimer: Inhaltliche und politische Positionierungen und Äußerungen unserer Autor*innen und Interviewpartner*innen geben die Meinung der Autor*innen und Interviewpartner*innen wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der RUK-Redaktion.

Herausgeberschaft, Redaktionelle Betreuung und Endredaktion: Miriam Müller-Rensch