Forschen als Outsider*in: Feldforschung im Globalen Süden

Ein Beitrag von Caroline Cornier  – Ländliche Gebiete sind in der Regel überdurchschnittlich stark von globalen Phänomenen wie dem Klimawandel, politischer und religiöser Radikalisierung oder Gewalt paramilitärischer und linksradikaler Gruppen betroffen. Gleichzeitig sind sie sowohl medial als auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung unterrepräsentiert. Dieser Artikel gibt daher einen einführenden Überblick, wie sich insbesondere junge Forschende ländlichen Regionen nähern können und was bei Forschungsprojekten im Globalen Süden zu reflektieren ist.

Verbesserung ländlicher Lebensbedingungen durch Landreformen?

Traditionelles Holzhaus in der kolumbianischen Pazifikregion, Januar 2020 (© Caroline Cornier)

Angesichts der massiven Ausbreitung von agroindustriellen Monokulturen (insbesondere von Palmölplantagen) und illegalem Drogenanbau gewährte Kolumbien 1993 als erstes lateinamerikanisches Land nicht-indigenen afrokolumbianischen Gemeinden der waldreichen Pazifikregion des Landes kollektive Landrechte. Dennoch leidet die Region weiterhin überdurchschnittlich unter Armut, Gewalt und illegalem Kokainanbau (UNODC 2019). Daran änderte  auch der 2016 von der Regierung geschlossene Friedensvertrag mit der Guerilla FARC nicht viel. In meiner Masterarbeit ging ich anhand zweier Fallstudien daher der Frage nach, inwiefern und unter welchen Bedingungen Landreformen tatsächlich zur Verbesserung ländlicher Lebensbedingungen beitragen können. Zwischen Juli 2019 und Februar 2020 interviewte ich insgesamt 30 Vertreter*innnen beider Gemeinden, der Palmölindustrie sowie lokaler Regierungs- und Nichregierungsorganisationen und nahm an mehreren Gemeindeveranstaltungen teil. Anhand der Beschreibung konkreter Felderlebnisse gehe ich in diesem Betrag genauer darauf ein, was Forscher*innen des Globalen Nordens in von Gewalt geprägten und marginalisierten Regionen des Globalen Südens reflektieren sollten.

Forschen als Outsiderin

Gemeindeversammlung in Yurumangui, Januar 2020 (© Caroline Cornier)

Wie jede*r Forschende hoffte ich, dass meine Anwesenheit vor Ort helfen würde, über das hinauszugehen, was Goffman als „Frontstage“ bezeichnete  (Goffman 1975). Das heißt, ich wollte das öffentliche Bild und den Diskurs der Gemeinderäte und der lokalen Organisationen überwinden und Zugang zum „Backstage“- Bereich erhalten, in dem tiefergehende Informationen und gelebte Erfahrungen zum Vorschein kommen können (Cunliffe and Alcadipani 2016).

Dabei musste ich allerdings beachten, dass ich als weiße, ausländische Frau einen ausgeprägten Outsiderstatus einnahm. Dieser würde es möglicherweise erschweren, persönlichere Beziehungen mit meinen Interviewpartner*innen aufzubauen und Zugang zu Insiderinformationen zu erhalten. Schließlich war ich nicht nur nicht Teil der Organisationen und der Bevölkerungsgruppe, die ich untersuchen wollte, sondern verfügte als Europäerin auch weder über die gleichen sprachlichen und kulturellen Referenzen oder einen ähnlichen Erfahrungsschatz wie meine Gesprächspartner*innen, noch war ich je vergleichbaren Gefahren ausgeliefert. Desto wichtiger war es, dass ich die Reproduktion alter kolonialer Machtmechanismen aktiv unterband, indem ich meine eigenen Ansichten hintenanstellte und der Perspektive meiner Gegenüber größtmöglichen Raum gab.

Gleichzeitig hatte mein Outsiderstatus aber auch positive Effekte. So stand ich nicht in Verdacht Teil lokaler oder nationaler Machtverhältnisse zu sein, was mir Vertrauenswürdigkeit schenkte. Mein Interesse für die afrokolumbianische Bevölkerung hatte somit einen unparteischen Eigenwert, der mir Sympathien sicherte. Am Ende reichte dies aus, um zum Beispiel von Interviewpartner*innen der wichtigsten afrokolumbianischen Organisation über die Generalversammlung in einer der von mir untersuchten Gemeinden informiert und mit dem Gemeindevorsteher in Kontakt gebracht zu werden. Er sollte dann auch mein Gatekeeper (Beek and Göpfert 2011) bei der Versammlung werden.

Forschen mit Gatekeeper oder als Teil einer Gruppe

Gemeindeworkshop in Tumaco, Januar 2020 (© Caroline Cornier)

Der Gemeindevorsteher war ein Mann Anfang vierzig. Er erzählte stolz von seinem Abschluss in Ingenieurswissenschaften und interessierte sich für die französische Sprache und französische Reggae-Musik. Dies vereinfachte den Aufbau einer Beziehung und gab mir die Möglichkeit, seine Interaktionen mit anderen Gemeindemitgliedern zu beobachten. Auch konnte ich ihn gelegentlich bitten, die Geschehnisse für mich zu erläutern und zu kontextualisieren. Gleichzeitig hatte ich jedoch den Eindruck, dass ihn seine politische Position ein wenig selbst zu einem Außenseiter in der Gemeinde gemacht hatte. Daher distanzierte ich mich am zweiten Tag der Gemeindeversammlung schrittweise von ihm und konzentrierte mich mehr auf meine eigenen Beobachtungen (Ortner 2010). Diese Entscheidung wurde durch die Ankunft einer humanitären Mission am Ende des zweiten Tages weiter gefestigt. Zunächst erwog ich zwar, mich von den Neuankömmlingen fernzuhalten, um nicht als Vertreterin des NGO-Sektors gesehen zu werden. Angesichts meiner kurzen Aufenthaltszeit, sowie der Tatsache, dass die Mehrheit der Missionsteilnehmer*innen im Gegensatz zu den Gemeindemitgliedern ebenfalls weißer oder heller Hautfarbe waren, schien es jedoch unvermeidlich und nicht nur von Nachteil, als Teil dieser Gruppe gesehen zu werden: Die lokalen Teilnehmer*innen waren durch den hohen Bekanntheitsgrad ihrer Gemeinde an das Interesse und die Besuche meist westlich geprägter NGOs gewöhnt. Zudem wurden  die NGO-Vertreter*innen tendenziell positiv auf- und wahrgenommen, da sie einen gewissen Schutz repräsentierten.

Harmlos und nützlich? Forschen als vermeintliche Verbündete

Zu Beginn meiner zweiten Feldforschung überraschte mich, wie bereitwillig die meisten afrokolumbianischen Aktivist*innen mit mir sprachen. Sie widmeten meinen Interviews viel Zeit und teilten viele persönliche Informationen mit mir. Mir schien dies das Ergebnis meiner Erscheinung – harmlos und potenziell nützlich für die Eigeninteressen meiner Interviewpartner. Meine von mir selbst angenommene Harmlosigkeit erklärte ich mir in Anlehnung an Rebecca Horns Bericht über ihre Forschungen bei der Polizei als 23-jährige Studentin (Horn 1997) durch meinen relativ niedrigen Status als Studentin, mein Alter (damals 24), mein Geschlecht sowie meine ausländische Herkunft.

Meine gleichzeitige Einordnung als potenziell nützliche Verbündete ergab sich daraus, dass es für lokale Bewegungen in ganz Lateinamerika von großer Bedeutung ist, auf internationaler Ebene wahrgenommen zu werden (Allain 2016). Dadurch kann Druck auf die nationalen Regierungen ausgeübt werden. Auch wenn meine Arbeit auf kurze Sicht offensichtlich von eher geringem Nutzen für die lokalen Gemeinden sein würde, so konnte sie doch langfristig zur Sichtbarmachung afrokolumbianischer Anliegen im Ausland beitragen und eventuell neue finanzielle Mittel ermöglichen. Mathilde Allain (2016) macht in ihrer Doktorarbeit außerdem darauf aufmerksam, dass besonders in Kolumbien traditionell erwartet wird, dass sozialwissenschaftliche Forschung die Interessen der Unterdrückten vertritt. Diese Erwartung spiegelt sich in vielen nationalen NGOs wider, welche oft mit Anthropolog*innen und Historiker*innen zusammenarbeiten, um Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Ähnlich verhält es sich mit engagierten Journalist*innen und Forscher*innen, die zu Aktivist*innen werden. Diese Forschungstradition knüpft an die Arbeit einflussreicher, nationaler Forscher*innen wie die des Soziologen Orlando Fals Borda an. Fals Borda setzt in seiner Arbeit auf die „Participatory Action Method“ (auch bekannt als Aktionsforschung): Die Grundlage sind Forschungsmethoden, die kollaborativ mit lokalen Akteur*innen erarbeitet werden  und auf diese Weise die tatsächlichen sozialen Bedürfnisse aufdecken (Fals Borda 1986).

Diese Vorannahmen halfen mir besser zu verstehen, wie die humanitäre Mission von den lokalen Akteur*innen wahrgenommen wurde. Es erklärte auch, warum z.B. eine Gruppe von Akademiker*innen und Intellektuellen zur Verteidigung des kolumbianischen Pazifiks (GAIDEPAC) (die von dem bekannten kolumbianischen Anthropologen Arturo Escobar gegründet wurde) zu den Teilnehmenden gehörte. Zudem ermöglichte es mir, ein selbstreflexives Verständnis meiner eigenen Position unter den lokalen Akteur*innen zu erlangen. Meine zugewiesene Rolle als Verbündete könnte erklären, warum ich im Gegensatz zu Juanita Sundberg (2015) während ihrer Untersuchung eines Maya-Biosphärenreservats in Guatemala, wo sie unablässig nach dem Nutzen ihrer Forschung gefragt wurde, nicht auf allzu viel Misstrauen stieß. Selten wurde ich gebeten, Informationen nicht preiszugeben oder wurden offene Antworten verweigert. Auch musste ich meine Forschungszwecke nur selten erklären.  Zu dieser Offenheit trug sicherlich auch bei, dass ich als deutsch-französische Studentin weder mit US-Imperialismus in Verbindung gebracht wurde, wie es die US-amerikanische Sundberg in Guatemala befürchtete, noch direkt durch die koloniale Vergangenheit meiner Heimatländer belastet war, wie es der Fall der französischen Anthropologin Charlotte Pezeril (2007) während ihrer Feldforschung in einer ländlichen Gemeinde im Senegal war. Stattdessen sprachen die Gemeindemitglieder überraschend offen über bestimmte Schwächen ihrer organisatorischen Bemühungen. So z.B. über den begrenzten Fortschritt in Bezug auf ökologische Nachhaltigkeit, den Mangel an Transparenz innerhalb des Gemeinderats oder sogar über wirtschaftliche Misserfolge.

Wie Nähe Erkenntnisse blockieren kann

Transportroute für Rohstoffe in der Nähe von Tumaco, Januar 2020 (© Caroline Cornier)

Die Kehrseite einer impliziten Komplizenschaft zwischen Forschenden und lokalen Akteur*innen ist allerdings, dass Forschung so Gefahr läuft, zum unkritischen Sprachrohr für lokale Realitätsauffassungen zu werden, die sich nicht unbedingt verallgemeinern lassen. Zudem besteht die Gefahr, dass als illegitim geltende Forschungsobjekte und Perspektiven ignoriert werden (Allain 2016). In der Tat wurde mir schnell klar, dass das Infragestellen bestimmter Aspekte der afrokolumbianischen Bewegung fast als eine Form von Verrat angesehen wurde. Dieser Eindruck bestätigte sich bei einem Interview mit einem Aktivisten des afrokolumbianischen Dachverbands CONPA. Dieser erzählte mir, dass das meiner Meinung nach gelungene Buch „Black and Green: Afro-Colombians, Development, and Nature in the Pacific Lowlands“ der indisch-amerikanischen Wissenschaftlerin Kiran Asher über die afrokolumbianische Landrechtbewegung (2009) von seinen Kolleg*innen als „neoliberales“ Werk angesehen wird (er selbst hatte es nicht gelesen). Außerdem ermutigte er mich, einen Aufsatz eines befreundeten Aktivisten zu lesen (obwohl er sich weigerte ihn mir zu schicken). Der Aufsatz kritsiert nicht-regionale Forschende als „negrólogos“, die Afrokolumbianer*innen als anthropologische Objekte statt als autonome Subjekte untersuchen (unter Ausnahme explizit „politisch engagierter“ Anthropologen wie Jaime Arocha, Arturo Escobar und Ulrich Oslender). Interessanterweise nahm mein Gesprächspartner meine Arbeit jedoch von diesen Überlegungen aus („Du schreibst ja [nur] deine Masterarbeit …“). Doch seine Ausführungen zeigten, dass er mich entweder bereits als engagierte Verbündete sah oder die Kooperationsbedingungen im Voraus explizit machen wollte.

Forschen als weiße Vertreterin des Globalen Nordens

Abgesehen von meinem potenziellen Zugang zu Ressourcen, konnte ein Gespräch mit mir im lokalen Kontext auch eine Form von Sozialprestige darstellen. Eines der älteren Mitglieder des Gemeinderats der zweiten Gemeinde, die ich untersuchte, erzählte beispielsweise all seinen Anrufer*innen, dass er sich gerade in einer Besprechung mit wahlweise einer Señora oder einer Doctora befände. Und auch Mathilde Allain stellte fest, dass lokale Akteur*innen ihre internationale Begleitung in abgelegenen Regionen gerne aktiv nutzen, um ihren sozialen Status aufzubessern (Allain 2016). Dennoch unterschied sich mein Status in der zweiten Gemeinde deutlich von jenem, der mir während der Gemeindeversammlung in der ersten Gemeinde zugewiesen worden war. Angesichts der langen Geschichte endemischer Gewalt und der nach wie vor dramatischen sozio-politischen Exklusion dieser Gemeinde war es von Anfang an unwahrscheinlich, dass ich als potenzielle Changemakerin wahrgenommen werden würde. Tiefergehende Ausführungen blieben hier daher auch aus. Es waren überhaupt nur zwei Gemeinderepräsentanten zu einem Interview bereit und ihre Schilderungen spiegelten größtenteils den versöhnlichen Diskurs der lokalen Palmölfirmen wider. Auf der anderen Seite schienen mich die Vertreter der Palmölindustrie und die staatlichen Repräsentant*innen als beeinflussbare Gesprächspartnerin wahrzunehmen, die ihnen helfen könnte ihr öffentliches Image aufzupolieren. Entsprechend waren sie für Gespräche verfügbar, aber ebenso wenig bereit von ihren vorgefertigten Ausführungen abzuweichen. Anstatt zu versuchen, diese zugewiesenen Rollen aktiv zu überwinden, entschied ich mich, sie durch strategisch platzierte „Unwissenheitsbekenntnisse“ zu nutzen (Atkinson 1993). Diese Strategie ermöglichte es mir explizit um ausführliche Hintergrundinformationen zu bitten und mir so ein vollständigeres Bild der öffentlichen Diskurse zu machen.

Forschen als Toubabesse: Zum Sonderstatus der weißen Frau

Atkinson (1993) zufolge weisen Flirtversuche darauf hin, dass eine Forscherin als relativ machtlos und nicht bedrohlich wahrgenommen wird. In meinem Fall schien mir, dass meine Fremdheit und meine seriöse Haltung mein Alter und meine vermeintliche Harmlosigkeit überspielten. Tatsächlich schien mein Geschlecht in Kombination mit meiner weißen Hautfarbe in der überwiegend schwarzen (oder mestizischen) und männlichen Umgebung tendenziell ein positives Stigma darzustellen (Goffman 1975).

Anstatt Ablehnung hervorzurufen, führte das Erbe des Kolonialismus eine „positive“ soziale Differenzierung herbei. Dies stellte für mich eher einen „Türöffner“ als einen Ausschlussmechanismus dar. In diesem Sinne beschreibt Charlotte Pezeril (2007), dass ihr doppeltes Stigma als weiße Frau im Senegal trotz seiner manchmal einschränkenden Implikationen auch den angenehmen Effekt hatte, ihr gleichermaßen Zugang zu weiblichen wie zu männlichen Räumen zu verschaffen. Pezeril zitiert dafür Jean-Marie Gibbal, der feststellt, dass „der Toubab [weißer Mann] erhebliche Schwierigkeiten haben wird, Zugang zu weiblichen Informantinnen zu bekommen, während die Toubabesse [sic!] [weiße Frau] gleichermaßen mit Männern und Frauen arbeiten kann, indem sie mit der Ambivalenz ihrer Position als Ausländerin spielt”.  Viele [nicht-westliche] Frauen fühlten sich unwohl mit einem Mann zu sprechen, insbesondere wenn es sich um einen Ausländer handele, während Männer andersherum in der Regel weniger Vorbehalte gegenüber europäischen Frauen hätten (Gibbal 1982 zit. in Pezril 2007, 10). In meinem Fall fand ich mich regelmäßig als einzige Frau in männlichen Gesprächsrunden wieder und empfand mit meinen weiblichen Interviewpartnerinnen eine gewisse Komplizenschaft. Gleichzeitig hat die Unterrepräsentation von Frauen in meiner Forschung konkrete Gründe. So räumt auch Pezeril ein, dass Frauen in den meisten sozialen Milieus nach wie vor dazu neigen, sich als illegitime, nicht ausreichend sachkundige Interviewpartnerinnen zu betrachten. Tatsächlich waren weibliche Vertreterinnen auf der Generalversammlung in der ersten Gemeinde nicht nur chronisch unterrepräsentiert, sondern gaben in der Regel auch überrascht an, zu beschäftigt für ein Interview zu sein. Dabei liefern Frauen regelmäßig aufgrund der lokalen Geschlechterrollen einen anderen Blick auf soziale Zusammenhänge und können anderweitig nicht verfügbare Hintergründe liefern. Pezeril versuchte daher Frauen vor allem bei informellen Anlässen für sich zu gewinnen. Doch um Zugang zu diesen intimeren Kontexten zu erlangen braucht es zusätzliche Zeit und Vertrauen, was mir beides leider fehlte.

Engagiert Forschen mit kritischer Distanz

Trotz meiner Solidarität mit den afrokolumbianischen Gemeinden hatte ich als kritische Sozialforscherin den Anspruch auch Widersprüche der lokalen Entwicklungen aufzudecken. Dieses Ziel ließ mich jedoch meine eigene Legitimität in Frage stellen, zumal der afrokolumbianische Kampf um territoriale Selbstbestimmung für viele meiner Interviewpartner*innen eine fast schicksalhafte Lebensaufgabe darstellt. Ich notierte in meinem Feldnotizheft

„Die afrokolumbianische Landrechtebewegung stellt weder einen persönlichen Kampf für mich dar, noch dient sie meiner eigenen Identitätsfindung. Zwar ermöglicht mir meine Außenseiterposition auch gerade einen gewissen kritischen Blick, doch sie lässt mich auch an meiner Legitimität zweifeln. Warum bin ich hier und was ist mein Ziel?“ (Feldnotizen, 6. März 2020)

traditionelle Stelzenholzhäuser in Tumaco, Januar 2020 (© Caroline Cornier)

Juanita Sundberg half mir, diesen Widerspruch aufzulösen. Sie weist darauf hin, dass es bei engagierter „Außenseiterforschung“ darum gehen sollte zu verstehen „wie home and field, hier und dort, wir und sie [durch] imperiale Kapitalbeziehungen miteinander verbunden sind “ (Sundberg 2015, 118). Statt sich in „liberalen Vorstellungen von Solidarität und politischen Allianzen“ und „going native“ Idealen zu verlieren, sollten Forschende aus dem Globalen Norden sich darüber bewusst sein, dass sie sich durch die imperiale Vergangenheit der Welt immer in asymmetrischen Beziehungen zu einem Großteil der Weltbevölkerung befinden werden. Sundberg schlägt daher stattdessen selbstreflexive „walking with“ Ansätze vor, bei denen es darum geht, sich vom eigenen Ort der Verstrickung und des Engagements aus für soziale Gerechtigkeit einzusetzen (ibid.).

Reflexion: Lessons Learned?

Kolumbien ist seit vielen Jahren zugleich der größte Kokainproduzent der Welt und das Land mit den meisten Binnenvertrieben (Velez 2011). Tatsächlich sind ländliche Gebiete im globalen Süden meist überdurchschnittlich stark von den negativen Auswirkungen globaler Nord-Süd-Verstrickungen betroffen. Umso wichtiger ist es, dass wir auch im globalen Norden beginnen, uns mehr für diese Regionen und unseren Einfluss auf sie zu interessieren. Entgegen der Ansicht mancher militanter Forscher*innen des Globalen Südens bin ich überzeugt, dass es möglich und nötig ist, sich als Forschende*r auch in soziale und politische Dynamiken hineinzuversetzen, die sehr wenig mit unserer eigenen Lebenswelt zu tun haben. Dafür ist es jedoch unerlässlich, dass wir unsere eigene Position, sowie die Möglichkeiten und Hindernisse, die sich daraus ergeben, reflektieren. Nur so können wir beginnen, Jahrhunderte währende, meist kontraproduktive Machtverhältnisse aufzulösen, anstatt sie zu reproduzieren.

Caroline Cornier hat vergleichende Politikwissenschaft mit Fokus auf Lateinamerika an der Sciences Po Universität in Paris studiert (Master of Arts) wo sie eine Masterarbeit zu kollektiven Landrechten und territorialer Selbstverwaltung afrokolumbianischer Gemeinden schrieb. Im Rahmen dieses Forschungsprojekt verbrachte sie insgesamt vier Monate in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá und der Pazifikregion des Landes, wo 90 Prozent der Bevölkerung afrikanischer Abstammung sind und viele Gemeinden nach wie vor relativ isoliert vom Rest des Landes von landwirtschaftlichen Aktivitäten leben. Caroline interessiert sich insbesondere für die politisch-ökonomische Dimension heutiger Nord-Süd-Beziehungen, ihre Verbindung mit dem Erbe des Kolonialismus sowie für die Widerspiegelung auf lokaler Ebene. Mit ihrer Forschung möchte sie Ungleichheit produzierende Kontinuitäten aufdecken und so Wege für ein nachhaltigeres und gerechteres Weltwirtschaftssystem aufzeigen.

Hier geht’s weiter zum ausführlichen Artikel der Forschungsergebnisse von Caroline Cornier: „Territoriale Autonomie – Sackgasse oder essenzielles Mittel zum Widerstand?“

Disclaimer: Inhaltliche und politische Positionierungen und Äußerungen unserer Autor*innen und Interviewpartner*innen geben die Meinung der Autor*innen und Interviewpartner*innen wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der RUK-Redaktion.

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Redaktionelle Betreuung: Mira Schwarz
Herausgeberschaft, Redaktionelle Betreuung und Endredaktion: Miriam Müller-Rensch